Sterbelaeuten
Stephanie sah gedankenverloren aus dem Fenster.
„So ganz allein, heute Abend, die Dame?“, erklang eine wohlbekannte Stimme neben ihr. Torat stand da, und die Deckenlampe über seinem Kopf leuchtete Stephanie wie ein Heiligenschein. Er hatte ihre Situation voll erfasst. Sie saß inmitten von Leuten, mit denen sie außerhalb des Kirchenvorstandes nichts gemeinsam hatte. Torat setzte sich ihr gegenüber.
„Mutterseelenallein“, sagte sie und schob sofort alle Gedanken darüber, wie passend oder unpassend dieser Ausdruck sein mochte, fort.
Einen Rotwein später sah Stephanie optimistischer in die Runde. Torat hatte es irgendwie geschafft, das allgemeine Gespräch auf die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft zu lenken. Neumann bot an, dass die Gemeinde in seiner Scheune ein Public viewing veranstalten könne. Torat und Henry waren sich einig, dass die Termine für Trauungen unbedingt in Einklang mit dem Spielplan vergeben werden sollten.
Schließlich verabschiedete sich einer nach der anderen, bis am Ende nur noch Stephanie und Torat übrig geblieben waren. Sie sahen sich an. Torat legte seine Hand auf Stephanies Hand. „Geh noch nicht, Stephanie.“
„Ich geh ja noch gar nicht.“
„Das ist gut“, sagte Torat. „Denn ohne dich ist alles doof.“
Stephanie lachte. „Seit wann ist denn alles doof ohne mich?“, fragte sie. Er flirtete ja ziemlich plump, aber im Moment tat ihr die Aufmerksamkeit gut.
„Schon seit langem“, erwiderte Torat, plötzlich ernst.
Stephanie sah ihn erstaunt an. Er streichelte langsam über ihre Hand, den Arm entlang bis zum Ellbogen, wo es angenehm kitzelte und langsam wieder zurück zur Hand. Völlig unerwartet überkam sie eine tiefe Sehnsucht. „Sei nicht verrückt!“, schalt sie der Chor, bestehend aus der Vernünftigen, der Juristin und der Kirchenvorsteherin.
„Wieso nicht?“, erwiderte die andere, die also tatsächlich auch noch in ihr steckte. Die Sehnsucht hatte, sich fallen zu lassen, die gehegt und umsorgt werden wollte, und die vor nicht mal zwei Wochen ihre Mutter verloren hatte und dachte, warum soll ich mich um richtig oder falsch oder klug oder unklug kümmern, wenn die Welt nie wieder so sein wird, wie sie war.
Torats Hand wanderte zu ihrer Stirn und strich von dort über die Schläfe, über die Wange zum Hals herunter. Stephanie schloss die Augen. Torat drückte ihre Hand und stand auf. Als sie erstaunt zu ihm hochsah, küsste er sie auf die Stirn. „Warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.“
Sie sah ihm nach. Er ging zur Theke und sagte etwas zu der müde aussehenden Kellnerin. Wenig später bekam er einen Zettel und holte Geld aus dem Portemonnaie. Dann kam er zurück. Er setzte sich neben sie auf die Bank und legte den Arm um sie. „Stephanie“, sagte er ganz nah an ihrem Ohr. „Du willst heute Nacht genauso wenig allein sein wie ich.“
„Was meinst du?“, fragte sie blöde, als sei sie 17 und nicht 33.
„Du weißt, was ich meine.“ Torat küsste ihr Ohrläppchen. Er zog sie sanft nach oben und sie verließen Arm in Arm das Wirtshaus. Stephanie ließ sich in den ledernen Beifahrersitz von Torats Audi fallen. Es war ein Angeber-Auto, aber man saß bequem darin.
Es ist okay, dachte sie. Du bist erwachsen. Es ist vielleicht nicht das Klügste, was du in deinem Leben angefangen hast, aber was soll’s.
Torat fuhr schweigend durch die verschneite Nacht. Das ist verrückt, dachte er. Aber er sah keinen anderen Weg.
–
Thomas putzte sich die Zähne und wusch sich das Gesicht. Der Abend war schön gewesen. Gott sei Dank hatte er sich mit Elisabeth wieder vertragen. Die Kinder hatten Spaß an dem Film gehabt. Es war ein Familienabend gewesen, auch wenn es zwei nicht ganz komplette Familien waren, die sich zusammengefunden hatten. Der Kinder wegen fiel es Thomas leicht, sich auf solche Unternehmungen einzulassen. Aber wenn er allein war und darüber nachdachte, tat es weh. Wenn Anja nicht gestorben wäre, bräuchten sie sich nicht von Elisabeth und Henry einladen zu lassen, um sich wie eine Familie zu fühlen. Wenn Anja noch lebte, wären sie eine richtige Familie. Aber da sie tot war, waren sie immer unvollständig. Jedes Samstagsfrühstück, jeder Urlaub, jedes Schulfest hatte eine Unvollkommenheit, die nur Anja hätte füllen können. Und das war ja längst nicht alles. Die Kinder würden bald groß sein und aus dem Haus gehen. Dann würde er erst mal allein sein. Wie wird sich das anfühlen, ganz allein am Frühstückstisch
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