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Sterbelaeuten

Sterbelaeuten

Titel: Sterbelaeuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Endemann
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blieb außer Atem im Türrahmen stehen. „Warum kommst du nicht? Wir wollen anfangen.“
    „Ich komm gleich. Fangt schon an!“, wimmelte er sie ab. Sie lief wieder runter. Nach ein paar Augenblicken hörte er Filmmusik.
    Jetzt mal ganz ruhig, sagte er sich. Wo hattest du ihn zuletzt? Er hatte ihn am Schreibtisch in die Hosentasche gesteckt. Das war am Sonntagabend vor zwei Wochen gewesen. Die Hose hatte er am nächsten Sonntag noch mal angezogen, weil sie seine einzige Hose ohne Löcher war. Mit ihr war er in der Kirche gewesen. Und im Glockenturm. Und danach hatte er die Hose ausgezogen. Wenn der Brief hier nirgends war und ihn noch niemand gefunden hatte, dann musste er in der Kirche sein. Vielleicht im Glockenturm. Da kam Gott sei Dank kaum jemals jemand hin. Außer natürlich Thomas, wenn er nach den Schleiereulen sah. Was, wenn er ihn fand? Auch wenn Thomas es niemandem erzählen würde, wäre es grauenhaft peinlich, dachte Markus. Er musste versuchen, den Brief wiederzufinden. Er musste unauffällig die Kirche absuchen. Und wenn der Brief da nicht war, musste er noch mal in den Glockenturm. Markus blieb noch einen Moment sitzen. Dann seufzte er und stand auf. Alles wurde kompliziert, wenn Mädchen im Spiel waren. Er ging runter und setzte sich zu den anderen.
    –
    Sibylle starrte mit leerem Blick durch die Fensterscheibe in die Dunkelheit. Gelegentlich flogen Häuser an ihr vorbei, die an der Eisenbahnstrecke lagen. Sibylle registrierte nicht, was sie sah. Sie würde nicht umhinkommen, mit Christian zu reden. Unabhängig davon, ob und was aus ihr und Mirko vielleicht noch wurde, eins war ihr jetzt klar: Christian und sie hatten keine gemeinsame Zukunft. Sibylle schauderte bei dem Gedanken daran, dass sie dies ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Sie wusste, es war unfair gegenüber Christian, aber jetzt, da ihr klar war, dass sie ihn nicht liebte, kam ihr diese Vorstellung geradezu grotesk vor. Seine ganze Art. Das fing schon bei dieser Ingenieur-Kleidung an. Komisch geschnittene Stoffhosen, gemusterte Socken, Lacoste-Pullover. Seine Freunde waren genauso. Sibylle langweilte sich zu Tode, wenn sie mit ihnen ausgingen. Sie sprachen nur über die Arbeit. Wenn sie nicht arbeiteten, unternahmen sie nichts als Sportaktivitäten miteinander. Gingen Klettern, fuhren Segway oder so was. Für Musik interessierte sich keiner. Theater? Fehlanzeige. Und dann dieses Reden über Geld. Sie hatte gelernt, dass man außerhalb der Familie nicht über Geld sprach. Es war ihr so peinlich gewesen, dass Christian selbst vor ihrer Mutter nicht davor zurückschreckte. Regelrecht ausgefragt hatte er sie.
    „Eine richtige Rente haben Sie wahrscheinlich nicht, Sie waren ja Hausfrau?“
    Ihre Mutter hatte sich nichts anmerken lassen und das Gespräch in andere Bahnen gelenkt, darin war sie gut. Aber Sibylle hatte sich in Grund und Boden geschämt. Auch sie hatte er gefragt, was man so verdiente als Bibliothekarin. Was ging es ihn an? Wollte er abchecken, ob sie eine gute Partie war? Wie hatte sie denken können, dass sie mit Christian glücklich sein könnte? War sie so einsam und verzweifelt gewesen, dass sie sich dem erstbesten Mann in ihrem Alter, der sich für sie interessierte, in die Arme warf? Die Aufmerksamkeit hatte ihr gefallen. Sie war so lange allein gewesen, dass es vielleicht einfach an der Zeit gewesen war, wieder eine Beziehung zu wagen. Aber mit Christian? Außerdem – so musste sie sich eingestehen– hatte es ihr gefallen, dass Christian sie wollte und nicht Stephanie. Die weltgewandte, schlagfertige, lustige Stephanie, der sonst alle zuhörten. Dabei wäre die eine bessere Partie gewesen, als Anwältin. Wie absurd alles war. Erst hatte sie über Stephanie triumphiert, weil Christian sie ausgewählt hatte und nicht Stephanie. Jetzt war es ihr gerade vor Stephanie peinlich, dass sie sich auf Christian eingelassen hatte. Mit Christian Schluss zu machen, bedeutete, ihren Fehler zuzugeben. Wer wäre sie eigentlich, wenn sie nicht Stephanies Schwester wäre, überlegte Sibylle. Was für ein Leben würde sie führen? Welche Entscheidungen würde sie treffen, ohne diese lebenslange Konkurrenz zwischen ihnen? War es nicht Zeit, erwachsen zu werden und sich von diesen Dingen frei zu machen?
    Als Sibylle ausstieg und über den verschneiten Park &Ride-Parkplatz lief, war ihr Golf mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Sie öffnete die Beifahrertür und verstaute ihre Übernachtungstasche, die Handtasche und die

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