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Sterbelaeuten

Sterbelaeuten

Titel: Sterbelaeuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Endemann
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Boden und Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Wie schlimm war sie dran? Was würden sie mit ihr tun? Es war eiskalt hier oben. So kalt wie draußen. In der orangefarbenen Beleuchtung, die von draußen durch die Turmfenster fiel, meinte sie die Kälte wie Nebel aus den Mauern in den Raum kriechen zu sehen. Bald würde die Decke sie auch nicht mehr wärmen.
    „Mein Handy!“, dachte Sibylle und setzte sich mit einem Ruck auf. Sie sah sich nach ihrer Handtasche um, aber die war nicht da. Hatte sie sie überhaupt aus dem Auto mitgenommen? Sie wollte ja nur kurz den Stollen abgeben. Oh Gott, wenn sie das nicht gemacht hätte, dann wäre sie jetzt zuhause in Sicherheit, in der warmen Badewanne. Sibylle sank auf den Boden zurück und weinte.
    –
    Im Poseidon ging es hoch her. Alle Tische waren besetzt. Kellner schoben sich durch die Gänge, riesige Vorspeisenplatten und dampfende Tontöpfe vor sich her tragend. Stephanie sah sich einen Moment lang um, bis sie im hinteren Eck den großen Tisch entdeckte, an dem schon einige Kirchenvorsteher saßen. Sie hängte ihren Mantel an einen Garderobenhaken und drängelte sich an der Bar vorbei.
    Die Sitzordnung war katastrophal, wie Stephanie schon von weitem erkannte. Sie konnte nur noch zwischen Neumann, dem Großbauern, und Hirtzig, dem Finanzbeamten, wählen. Sabine, ihre Freundin, war am anderen Ende fest eingebaut zwischen Henry und Adelheid, der Vorsitzenden des Jugendausschusses. Neben denen hätte Stephanie auch gerne gesessen. Aber da hätte sie wohl früher kommen müssen, dachte sie jetzt reumütig. An Henrys anderer Seite saß Frau Schimmer, die Vorsitzende des Kirchenvorstandes. Sie und Henry waren in ein Gespräch vertieft. Hoffentlich ging es wenigstens um einen raffinierten Plan, der bürgerlichen Gemeinde endlich Geld für die Orgelrenovierung aus den Rippen zu leiern, dachte Stephanie. Christiane, eine weitere Verbündete, hatte eben noch angerufen, sie war krank. Torat war offenbar noch nicht da.
    Stephanies Laune sank merklich. Eine Gruppe von Gästen kam ihr entgegen und sie ließ sie an sich vorbeigehen, trödelte absichtlich, betrachtete die Weihnachtsdekoration in einer Fensternische. Vielleicht hätte sie sich die Weihnachtsfeier sparen sollen. Es war ja nicht so, als wären sie alle Freunde. Im Kirchenvorstand ging es nicht anders zu als in anderen politischen Gremien. Es gab Seelenverwandte, Freunde, Kampfgefährten, Zweckverbündete, und es gab solche, mit denen man nichts anfangen konnte, Ewiggestrige, ja Feinde sogar, die das kaputt zu machen drohten, was andere mühsam aufgebaut hatten. Und wer zu welchen gehörte, war – wie in der Politik auch – Ansichtssache. Allerdings ging es im Kirchenvorstand immer irgendwie um Glaubensfragen, was eine sachliche Diskussion nicht einfacher machte. Alles wurde schnell zu einer Frage von richtig oder falsch, gut oder böse. Angeblich hatte der Genuss der verbotenen Frucht durch Adam und Eva ja dazu geführt, dass die Menschen zwischen gut und böse unterscheiden konnten. Es stellte sich aber heraus, dass auch hier vieles Ansichtssache war. Selbst wenn die Verlängerung des Abonnements einer Zeitschrift oder die Erneuerung des Hoftores auf der Tagesordnung standen, konnten jederzeit hitzige Grundsatzdiskussionen ausbrechen, die nicht selten in persönliche Angriffe mündeten und monatelange Verstimmungen zwischen verschiedenen Lagern zur Folge haben konnten.
    Angeblich war die Idee der Versöhnung das, was den christlichen Glauben so einzigartig unter den großen Religionen machte, philosophierte Stephanie weiter. Das hieß aber noch lange nicht, dass man sich als Sulzbacher Kirchenvorsteher alles bieten lassen musste, und schon gar nicht von jedem dahergelaufenen anderen Sulzbacher Kirchenvorsteher. Aber an Weihnachten sollte man in fröhlicher Runde zusammensitzen, geläutert vom Geist der Weihnacht, der vollbringen sollte, was der Heilige Geist das ganze Jahr über nicht vermocht hatte.
    Schließlich widerstand Stephanie dem Impuls, auf dem Absatz kehrtzumachen und aus der Gaststätte zu fliehen. Sie setzte sich, tauschte höfliche Begrüßungen aus und studierte die Karte. Sie entschied sich für Rotwein, Tsatsiki als Vorspeise und einen Fleischspieß mit Pommes als Hauptspeise. Als der Rotwein kam, musste sie sich zwingen, das Glas nicht gleich auf ex zu trinken. Wie sollte sie diesen Abend überstehen? Hirtzig und Neumann waren sich über die Bebauung der südlichen Bahnstraße in die Haare gekommen.

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