Sterbelaeuten
kopfschüttelnd nach. Manche Menschen machten sich das Leben unnötig schwer, dachte er. Da hatte der junge Mann ein solch schlechtes Gewissen bekommen, weil er sich schon zu Lebzeiten von Frau Heinemann nach einer neuen Stelle umsah, dass er es nicht wagte, ihre Töchter um Referenzen zu bitten, selbst als Frau Heinemann dann tot war. Wie ein Geier, der wartend ein sterbendes Tier umkreise, habe er sich benommen. Ob er ihr mit seinem voreiligen Tun vielleicht Unglück gebracht habe und am Ende Schuld an ihrem Tod gewesen sei? Pfarrer Herrmann hatte seine liebe Not damit gehabt, den Mann zu überzeugen, dass Gott hier gerade noch mal ein Auge zudrücken werde. Frau Hensch konnte froh sein, so eine treue Seele als Pflegekraft gewonnen zu haben.
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„Warum hat Sibylle ihr französisches Stück nicht gespielt?“, fragte Elisabeth Henry, der neben ihr am Bistrotisch seinen Kaffee trank. Thomas und Paul standen auch dabei. Paul war nicht in der Kirche gewesen. Er war ein katholischer Heide, wie er sich selbst bezeichnete. Aber er kam manchmal gerne zum Kirchenkaffee, „zum Frühstücken.“
„Wo ist Sibylle überhaupt?“, fragte Thomas.
„Ich habe sie noch gar nicht gesehen“, sagte Henry. „Als ich in die Kirche kam, war sie schon am Spielen und dann ergab sich keine Gelegenheit mehr, sie zu sprechen.“
Stephanie und Christian gesellten sich zu ihnen.
„Wisst ihr, wo Sibylle ist?“, fragte Elisabeth sie.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Stephanie. „Ich dachte, sie kommt sicher nach dem Gottesdienst hier rüber. Um ehrlich zu sein, habe ich sie heute Morgen noch gar nicht gesehen.“
Stephanie sah zu Henry hin und Elisabeth sah, dass Stephanie rot wurde.
„Ich kam ein bisschen spät“, sagte Christian, der für die Peinlichkeit unempfänglich war. „Ich habe sie heute Morgen auch nicht gesehen. Nur ihr Auto da vorne auf dem Parkplatz.“ Christian wies mit dem Kopf zur Vorderseite des Gemeindehauses.
„Steht das nicht schon seit gestern da?“, fragte Thomas. „Es ist total verschneit.“
„Ich habe mich gewundert, weil sie Buxtehude gespielt hat“, sagte Elisabeth. „Für die Abkündigungen hatte sie ein französisches Orgelstück angekündigt – ‚Dialogue sur les Grands Jeux‘ hieß es, glaube ich.“
„Aus dem ‚Veni Creator‘ von Grigny“, bestätigte Stephanie. „Das passt, sie war ja von Freitag bis gestern auf einer Fortbildung über französische Orgelmusik.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich habe sie jetzt seit Freitag nicht gesehen. Ich mache mir Sorgen.“
„‚O komm, du Morgenstern‘ war auch ein bisschen schnell gespielt für Sibylles Geschmack“, sagte Elisabeth langsam. „Ich glaube, Sibylle hat heute gar nicht georgelt.“ Sie sah Stephanie an.
Plötzlich drang Glockengeläut an ihre Ohren. Alle sahen erstaunt zur Kirche.
„Das ist die Totenglocke“, sagte Thomas.
„Da stimmt was nicht!“, rief Stephanie. Sechs Kaffeetassen knallten auf den Bistrotisch.
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Lukas und Samuel waren zunächst im Windfang der Seitentür stehen geblieben, um zu horchen, wo dieser Jakob war. Sie hörten Schritte und ein metallisches Klappern, das sich von der Apsis über den Mittelgang zu den Treppen auf die Empore bewegte. Er schleppte eine Leiter mit sich.
Sie folgten Jakob leise auf die Empore, mit sinkenden Herzen, als klar wurde, dass auch er auf direktem Wege zum Glockenturm ging. Wohl wegen der Leiter hatte Jakob die Tür zum Glockenturm nicht wieder richtig geschlossen, so dass die Jungen lautlos an die Treppe gelangten, die in die zweite Kammer führte.
Erschrocken verfolgten sie die Geschehnisse über ihren Köpfen. Mit wachsender Angst hörten sie, wie Jakob Vorbereitungen traf, Sibylle zu töten. Als er die Leiter umstieß, war Samuel losgerannt. Er war zur Läutekammer gerannt und hatte auf den Knopf für das Sterbeläuten gedrückt.
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Jakob stürzte die Treppe hinunter, rannte die Empore entlang und fast einen Jungen um.
„Was zum Teufel?“, rief er. Er sah sich um. Unten stand noch ein Junge. Gleich würden jede Menge Leute kommen. Jakob packte den Jungen neben sich im Nacken und zerrte ihn mit sich, die Empore entlang und die Treppen hinunter. Die Haupttür flog auf und ein Mann kam hereingestolpert, hinter ihm eine Frau, von der er schwören könnte, dass es die Frau aus dem Turm war, so ähnlich war sie ihr. Es musste ihre Schwester sein. Wieso hatte ihm keiner gesagt, dass die sich zum Verwechseln ähnlich sahen? Welcher war er denn jetzt
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