Sterben: Roman (German Edition)
spielen sollte, während alle Charaktere und Requisiten ansonsten aus den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts stammten. Jahrelang hatte ich versucht, über meinen Vater zu schreiben, es aber nie geschafft, wahrscheinlich, weil dies meinem eigenen Leben zu nahe kam und sich dadurch nicht so leicht in eine andere Form zwingen ließ, die doch Voraussetzung für Literatur ist. Das ist ihr einziges Gesetz: Alles muss sich der Form unterordnen. Ist ein anderes Element der Literatur stärker als die Form, etwa der Stil, die Handlung, die Thematik, gewinnt eins von ihnen die Oberhand über die Form, ist das Ergebnis schwach. Deshalb schreiben Autoren mit einem markanten Stil so häufig schwache Bücher. Deshalb schreiben auch Autoren mit einer markanten Thematik so häufig schwache Bücher. Damit Literatur entstehen kann, muss das Markante in Thematik und Stil niedergerissen werden. Dieses Niederreißen ist es, was man »schreiben« nennt. Beim Schreiben geht es eher ums Zerstören als ums Erschaffen. Keiner wusste das besser als Rimbaud. Bemerkenswert an ihm war nicht, dass er diese Erkenntnis in solch beängstigend jungen Jahren gewann, sondern dass er sie auch auf das Leben übertrug. Für Rimbaud ging es beim Schreiben wie im Leben immer um die Freiheit, und weil die Freiheit übergeordnet war, konnte er das Schreiben aufgeben oder musste es vielleicht sogar aufgeben, denn es wurde ebenfalls zu einer Fessel, die zerrissen werden musste. Freiheit ist gleich Zerstörung plus Bewegung. Ein anderer Autor, der das wusste, war Aksel Sandemose. Seine Tragik bestand jedoch darin, dass er nur die Kraft hatte, Letzteres bloß in der Literatur, aber nicht im Leben durchzuführen. Er zerstörte und verharrte im Zerstörten. Rimbaud ging nach Afrika.
Eine dieser unterbewussten Eingebungen ließ mich plötzlich aufschauen, und ich begegnete dem Blick einer Frau. Sie saß direkt vor dem Fenster in einem Bus. Es dämmerte bereits, und die einzige Lichtquelle im Zimmer war die Schreibtischlampe, die Beobachter von draußen anziehen musste wie Motten. Als sie merkte, dass ich sie sah, schaute sie weg. Ich stand auf, ging zum Fenster, löste die Jalousie und ließ sie herunter, während sich der Bus in Bewegung setzte. Es wurde ohnehin Zeit, heimzugehen. »Bald«, hatte ich gesagt, und das war mittlerweile schon eine Stunde her.
Sie war so froh gewesen, als sie anrief.
Plötzlich war ich unglücklich. Wie hatte ich auf ihre Sorge und Sehnsucht nur so gereizt reagieren können?
Mitten im Raum stand ich vollkommen still, als würde der Schmerz, der in meinen Körper ausstrahlte, auf die Art von alleine verschwinden, was jedoch niemals geschah. Er musste durch Handlung gebrochen werden. Ich musste es wiedergutmachen. Der Gedanke half mir nicht nur, weil er eine Versöhnung verhieß, sondern auch durch das, was er an praktischer Umsetzung erforderte, denn wie sollte ich es wiedergutmachen? Ich schaltete den Laptop aus, legte ihn in die Tasche, spülte meine Tasse aus und stellte sie ins Spülbecken, zog das lose Kabel heraus, schaltete das Licht aus und zog mich im mondscheinähnlichen Licht der Straße an, das durch die Schlitze in der Jalousie hereinfiel, wobei ich die ganze Zeit das Bild von ihr in unserer großen Wohnung vor Augen hatte.
Als ich auf die Straße hinaustrat, biss die Kälte im Gesicht. Ich zog die Kapuze des Parkas über die Mütze, senkte den Kopf, um mich vor den kleinen, umherwirbelnden Schneepartikeln zu schützen, und ging los. An guten Tagen nahm ich die Tegnérgatan bis zur Drottninggatan, der ich bis in die Gegend um den Hötorget folgte, um von dort aus den steilen Hang zur Johanneskirche hinauf und wieder abwärts zur Regeringsgatan zu gehen, in der unsere Wohnung lag. Diese Route war voller Läden, Einkaufspassagen, Cafés, Restaurants und Kinos, und es wimmelte immer von Leuten. Die Straßen dort unten waren förmlich überschwemmt von Menschen in allen Formen und Varianten. In den glänzenden Schaufenstern lagen die verschiedensten Waren aus, in den Geschäften liefen die Rolltreppen wie Räder in riesigen, geheimnisvollen Maschinerien, Aufzüge glitten auf und ab, auf Fernsehbildschirmen bewegten sich schöne Menschen wie Wiedergänger, vor hunderten Kassen bildeten sich Schlangen, die in Mustern, die so undurchschaubar waren wie die der Wolken am Himmel über den Dächern der Stadt, kürzer wurden und sich bildeten, kürzer wurden und sich bildeten. An guten Tagen liebte ich das alles, dann floss der
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