Sterben: Roman (German Edition)
errötender Held und Retter.
»Das war ja nun wirklich erbaulich und hübsch!«, sagte ich zu Yngve und Kari Anne, als ich mit dem Buch fertig war.
»Wir hatten das auch, als wir klein waren«, erwiderte Yngve. »Erinnerst du dich nicht?«
»Vage«, log ich. »Ist es dasselbe?«
»Nein, unser Exemplar liegt bei Mutter.«
Ylva wollte nochmals zu dem Stapel mit Kinderbüchern. Ich stand auf und holte meine Kaffeetasse vom Küchentisch.
»Bist du satt?«, sagte Kari Anne, sie war mit ihrem Teller auf dem Weg zur Spülmaschine.
»Ja«, sagte ich. »Danke fürs Essen.«
Ich sah Yngve an.
»Wann wollen wir los?«
»Ich muss noch duschen«, sagte er, »und packen. In einer halben Stunde vielleicht?«
»Okay«, sagte ich. Ylva hatte sich damit abgefunden, dass die Lesestunde für diesmal zu Ende war, und trottete in den Flur, wo sie sich meine Schuhe anzog. Ich öffnete die Schiebetür zur Terrasse und ging hinaus. Der Himmel war bedeckt, und es war recht warm. Die Stühle waren von einer Schicht feiner Tautropfen bedeckt, die ich vor dem Hinsetzen mit der flachen Hand abwischte. So früh war ich sonst nie auf den Beinen, normalerweise begann mein Morgen erst gegen elf, zwölf, eins, und alles, was meine Sinne nun aufnahmen, erinnerte mich an die Sommermorgen meiner Kindheit, an denen ich um halb sieben losradelte, um bei einem Gärtner zu arbeiten. Der Himmel war meistens diesig, die Straße leer und grau, die Luft, die mir entgegenschlug, kühl gewesen, und es war fast unvorstellbar, dass die Hitze über dem Feld, über das wir später am Tag gebeugt stehen sollten, glühend heiß sein würde, so dass wir in der Mittagspause in Windeseile zum Gjerstadvannet fuhren, um auf die Schnelle schwimmen zu gehen, bevor die Arbeit weiterging.
Ich trank einen Schluck Kaffee und zündete mir eine Zigarette an. Nicht, dass ich den Geschmack des Kaffees oder das Gefühl des Rauchs, der in meine Lunge sickerte, genossen hätte, ich nahm beides kaum wahr, es ging vielmehr darum, es getan zu haben, es war eine Gewohnheit, und wie bei allen Gewohnheiten lag alles in der Form.
Was hatte ich den Geruch von Rauch in meiner Kindheit gehasst! Autofahrten auf siedend heißen Rückbänken mit zwei paffenden Eltern vor mir. Der Rauch, der jeden Morgen durch den Türspalt aus der Küche in mein Zimmer sickerte, ehe ich mich an ihn gewöhnt hatte, und in meine schlafenden Nasenlöcher stieg, so dass ich aufschreckte, der sich täglich einstellende Widerwille, bis ich selber anfing zu rauchen und gegen den Geruch immun wurde.
Eine Ausnahme bildete die Phase, in der mein Vater Pfeife geraucht hatte.
Wann war das noch gewesen?
Die viele Mühe, den alten, schwarz verbrannten Tabak herauszuklopfen, die Pfeife mit den weißen, biegsamen Pfeifenreinigern zu säubern, neuen Tabak hineinzugeben, um anschließend Feuer anzusaugen, das Streichholz in den Pfeifenkopf, saugen, ein neues Streichholz hinein, saugen, saugen, um sich anschließend zurückzulehnen, ein Bein über das andere zu schlagen und Pfeife zu rauchen. Seltsamerweise verband ich das mit einer Zeit, in der er viel im Freien unternahm. Strickpullover, Anorak, Stiefel, Bart, Pfeife. Lange Spaziergänge ins Landesinnere, um für den Winter Beeren zu pflücken, ab und an, auf der Jagd nach Moltebeeren, der Beere aller Beeren, in die Berge, aber meistens von der Straße aus in den Wald, den Wagen am Straßenrand abstellen, alle mit Beerensammlern in der einen Hand, einem Eimer in der anderen bewaffnet, nach Blaubeer- oder Preiselbeersträuchern spähend. Pausen auf Rastplätzen an Flüssen oder auf Anhöhen mit Aussicht. Ab und zu auf dem Fels am Flussufer, ab und zu auf einem Baumstamm im Kiefernwald. Bremsmanöver, wenn am Straßenrand Himbeersträucher auftauchten. Raus mit den Eimern, denn dies waren die siebziger Jahre in Norwegen, als Familien am Straßenrand standen und an den Wochenenden Himbeeren pflückten und klobige, viereckige Gefrierbeutel mit Proviant im Kofferraum dabeihatten. Es war auch die Zeit, in der er angeln ging, nach dem Schultag begab er sich alleine zur Seeseite der Insel, oder an den Wochenenden auch mal mit uns zusammen, um Riesendorsche zu fangen, die dort zur Winterzeit in der Fahrrinne standen. 1974, 1975. Obwohl meine Eltern keinen Kontakt zu den Achtundsechzigern hatten, da sie schon mit zwanzig ein Kind bekommen und seitdem gearbeitet hatten, und sie meinem Vater ideologisch fremd waren, blieb er doch nicht unbeeinflusst vom Zeitgeist, der auch in ihm
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