Sterben: Roman (German Edition)
mal passierte.
»Buu!«, sagte ich.
»Iiha, iiha, iiha!«, sagte er.
Nicht alle Rituale sind zeremoniell, nicht alle Rituale sind deutlich abgegrenzt, es gibt welche, die mitten im Alltäglichen Gestalt annehmen und sich nur an dem Gewicht und der Spannung erkennen lassen, die das ansonsten Gewöhnliche plötzlich bekommt. Als ich an jenem Morgen auf der Vorderseite das Haus verließ und Yngve zum Auto folgte, kam es mir für einen Moment so vor, als träte ich in eine größere Geschichte ein als meine eigene. Die Söhne, die heimkehren, um ihren Vater zu beerdigen, das war die Geschichte, in der ich auf einmal mittendrin war, als ich vor der Tür zum Beifahrersitz stehenblieb, während Yngve den Kofferraum aufschloss und seine Tasche hineinlegte, derweil Kari Anne, Ylva und Torje uns im Türrahmen stehend beobachteten. Der Himmel war grauweiß und sanft, die Siedlung still. Der kurze Knall des Kofferraumdeckels, der von der Hauswand auf der anderen Straßenseite als Echo zurückgeworfen wurde, klang fast aufdringlich deutlich und scharf. Yngve öffnete die Tür und setzte sich hinein, lehnte sich herüber und zog den Sicherungsknopf an meiner Seite hoch. Bevor ich mich auf den Sitz schob und die Tür zuzog, winkte ich Kari Anne und den Kindern zu. Sie winkten auch. Yngve ließ den Motor an, legte den Arm auf meine Rückenlehne und setzte zurück und nach rechts. Dann winkte auch er, und wir fuhren die Straße hinunter. Ich lehnte mich zurück.
»Bist du müde?«, sagte Yngve. »Schlaf ruhig noch was, wenn du willst.«
»Wär das okay?«
»Klar. Solange ich Musik hören kann.«
Ich nickte und schloss die Augen. Hörte seine Hand auf den CD -Player drücken und in dem kleinen Regal unter dem Armaturenbrett nach einer CD suchen. Das leise Brummen des Motors. Dann die Platte, die hineinglitt, und unmittelbar darauf ein Mandolinentrio im Folkstil.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Sixteen Horsepower«, sagte er. »Gefällt es dir?«
»Hört sich gut an«, erwiderte ich und schloss erneut die Augen. Das Gefühl der großen Geschichte war verschwunden. Wir waren keine zwei Söhne, wir waren Yngve und Karl Ove, wir waren nicht auf dem Weg nach Hause, sondern nach Kristiansand, wir wollten keinen Patriarchen beerdigen, sondern Vater.
Ich war nicht müde und würde nicht schlafen können, aber es war angenehm, so zu sitzen, vor allem, weil es mir nichts abverlangte. Als wir aufwuchsen, war Yngve jemand gewesen, mit dem ich offen redete und vor dem ich keine Geheimnisse hatte, aber irgendwann, vielleicht sogar schon, als ich ins Gymnasium ging, veränderte sich das, seither war mir ungeheuer bewusst, wer er war und wer ich war, wenn wir uns unterhielten. Alles Natürliche verschwand, jede meiner Äußerungen wurde entweder im Voraus geplant oder im Nachhinein analysiert, meistens beides, außer wenn ich trank und dabei meine alte Freiheit zurückgewann. Mit Ausnahme Tonjes und meiner Mutter ging es mir mit allen Menschen so, ich konnte nicht mehr einfach mit Leuten zusammensitzen und reden, war mir der Situation zu sehr bewusst, und das riss mich aus ihr heraus. Ob es Yngve genauso erging, wusste ich nicht, aber ich glaubte es im Grunde nicht, denn wenn ich ihn mit anderen zusammen sah, wirkte es nicht so. Ob ihm klar war, dass es mir so ging, wusste ich ebenso wenig, aber irgendetwas sagte mir, dass es sich so verhielt. Häufig hatte ich das Gefühl, falsch oder unwahr zu sein, weil ich nie mit offenen Karten spielte, immer kalkulierte und berechnete. Es machte mir nichts mehr aus, war zu meinem Leben geworden, in diesem speziellen Moment jedoch, am Anfang einer langen Autofahrt, nachdem Vater gestorben war und so weiter, spürte ich, dass ich mich danach sehnte, mir selbst oder dem in mir zu entkommen, was mich so streng bewachte.
So eine verdammte Scheiße.
Ich richtete mich auf und schaute die CD s durch, die dort lagen. Massive Attack, Portishead, Blur, Leftfield, Bowie, Supergrass, Mercury Rev, Queen.
Queen?
Er hatte die Gruppe immer gemocht, war ihr treu geblieben und stets bereit, sie zu verteidigen. Ich erinnerte mich, wie er einmal in seinem Zimmer saß und auf seiner neuen Gitarre Note für Note eines von Brian Mays Solos kopierte, es war eine schwarze Les-Paul-Kopie, bezahlt mit seinem Konfirmationsgeld, genau wie die Mitgliedszeitschrift des Queen-Fanclubs, die er damals mit der Post bekam. Er wartete immer noch darauf, dass die Welt zur Vernunft kommen und Queen geben würde, was Queen rechtmäßig
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