Sterben: Roman (German Edition)
jemanden gibt, der einem nicht leidtun muss, dann er«, sagte Yngve.
»Ich weiß. Aber du verstehst schon, was ich meine.«
Er antwortete nicht. Die Stille, in den ersten Sekunden angespannt, verwandelte sich sachte in gewöhnliche Stille. Ich betrachtete die Landschaft, die hier, so nahe am Meer, karg und windgepeinigt war. Ab und zu eine rote Scheune, ab und zu ein weißes Wohnhaus, ab und zu ein Traktor mit Häcksler auf einem Feld. Ein altes Auto ohne Reifen auf einem Hof, ein gelber, unter eine Hecke gewehter Plastikball, ein paar weidende Schafe auf einer Böschung, ein Zug, der auf dem erhöhten Bahndamm einige hundert Meter jenseits der Straße langsam vorbeiglitt.
Ich hatte immer geahnt, dass wir ein unterschiedliches Verhältnis zu Vater hatten. Die Unterschiede waren zwar nicht groß, möglicherweise jedoch bedeutsam. Was wusste ich schon? Eine Zeit lang hatte Vater mehr Kontakt zu mir gesucht, ich erinnerte mich noch gut, es war in dem Jahr, in dem Mutter in Oslo eine Fortbildung und in der Kommune Modum ein Praktikum machte und ich zu Hause alleine mit ihm wohnte. Yngve, der damals vierzehn war, schien er aufgegeben zu haben, aber bei mir nährte er offenbar noch die Hoffnung, an mich herankommen zu können. Jedenfalls musste ich ihm jeden Nachmittag in der Küche beim Kochen Gesellschaft leisten. Ich saß auf dem Stuhl, er stand am Herd und briet irgendetwas, während er mich über dies und das ausfragte. Ob ich von der Lehrerin gelobt worden war, was wir in Englisch gelernt hatten, was ich nach dem Essen vorhatte, ob ich wusste, welches Fußballspiel am Samstag übertragen wurde. Ich antwortete einsilbig und wand mich auf meinem Stuhl. Es war auch der Winter, in dem er mich zum Skilaufen mitnahm. Yngve durfte machen, was er wollte, solange er sagte, wo er hinwollte und um halb zehn zu Hause war, und ich erinnere mich, dass ich ihn darum beneidete. Diese Phase währte übrigens länger als das Jahr, das Mutter fort war, denn im folgenden Herbst nahm Vater mich morgens vor der Schule zum Fischen mit, wir standen um sechs Uhr auf, und draußen war es so dunkel wie in der Tiefe eines Brunnens, und kalt, vor allem auf See. Ich fror und wollte heim, aber es war Vater, der mich mitnahm, weshalb es sinnlos war, sich zu beklagen, sinnlos, etwas zu sagen, es galt, einfach auszuharren. Zwei Stunden später waren wir zurück, gerade noch rechtzeitig, damit ich den Schulbus bekam. Ich hasste es, ich fror die ganze Zeit, das Meer war doch eiskalt, und meine Aufgabe war es, die Netzboje herauszufischen und die ersten Armlängen Netz einzuholen, während er das Boot manövrierte, und bekam ich die Boje nicht zu fassen, schimpfte er mich aus, ja, es war eher die Regel als die Ausnahme, dass ich unter Tränen versuchte, diese verdammte Netzboje in die Finger zu bekommen, während er auf und ab fuhr und mich in der herbstlichen Dunkelheit vor Tromøya mit wütenden Augen anstarrte. Aber ich weiß, dass er es mir zuliebe tat und es niemals für Yngve getan hatte.
Andererseits weiß ich auch, dass die ersten vier Jahre von Yngves Leben, als sie in der Thereses gate in Oslo lebten und Vater studierte und als Nachtwächter arbeitete und Mutter die Fachschule für Krankenpflege besuchte, während Yngve in den Kindergarten ging, gut waren, vielleicht sogar glücklich. Dass Vater frohen Mutes war und sich über Yngve freute. Als ich geboren wurde, zogen wir nach Tromøya, anfangs in ein altes, ursprünglich dem Militär gehörendes Haus in Hove, im Wald, direkt am Meer, danach in das Einfamilienhaus in Tybakken, und über diese Zeit habe ich nur gehört, dass ich einmal die Treppe hinunterfiel und hyperventilierte, so dass ich ohnmächtig wurde und Mutter mit mir auf dem Arm zum Nachbarn lief, der ein Telefon hatte und das Krankenhaus anrief, weil mein Gesicht immer dunkler anlief, und dass ich ein anderes Mal so geschrien hatte, dass mein Vater mich schließlich in die Badewanne gehievt und mit eiskaltem Wasser abgeduscht hatte, damit ich aufhörte. Mutter, die mir von dieser Episode erzählte, hatte ihn dabei überrascht und ihm daraufhin ein Ultimatum gestellt, noch einmal und sie würde ihn verlassen. Es passierte nie wieder, sie blieb.
Wenn Vater mir näherzukommen versuchte, hieß dies nicht, dass er mich nicht mehr schlug oder außer sich vor Wut anschrie oder sich die raffiniertesten Methoden einfallen ließ, um mich zu bestrafen, aber es bedeutete, dass das Bild von ihm nicht so eindeutig war, wie es dies
Weitere Kostenlose Bücher