Sterben: Roman (German Edition)
mütterlicherseits gewesen. Ich war damals einer der Sargträger, und es war eine schöne Beerdigung gewesen, der Friedhof lag auf einer Anhöhe über dem Fjord, die Sonne schien, ich weinte, als Mutter in der Kirche sprach und als sie, nachdem alles vorbei war und er in der Erde lag, am offenen Grab verharrte. Sie blieb mit gesenktem Kopf stehen, allein, und das Gras war grün und der Fjord tief unten blau und spiegelglatt, und die Berge auf der anderen Seite waren schwer und dunkel und brütend, und die Erde im Grab leuchtete schwarz und glänzend.
Hinterher hatten wir Rindfleischsuppe gegessen. Fünfzig schmatzende und schlürfende Menschen, denn nichts hilft besser gegen Sentimentalität als salziges Fleisch, als heiße Suppe gegen Gefühlsausbrüche. Magne, Jon Olavs Vater, hielt eine Rede, weinte jedoch so sehr, dass man kaum ein Wort verstand. Jon Olav hatte versucht, in der Kirche zu sprechen, musste aber aufgeben, denn er hatte Großvater so nahe gestanden, dass er kein Wort herausbrachte.
Ich ging ein paar Schritte mit steifen Beinen, blickte die Straße hinauf, die fast menschenleer war, nur nicht an ihrem Ende, wo die Fußgängerzone der Stadt verlief und es aus dieser Entfernung betrachtet fast schwarz vor Menschen zu sein schien. Wie immer, wenn seit der letzten Zigarette schon eine Weile vergangen war, kratzte der Rauch im Hals. Ein Auto hielt ungefähr fünfzig Meter oberhalb, und ein Mann stieg aus. Er lehnte sich vor und winkte den Leuten zu, die ihn absetzten. Er hatte dunkle, lockige Haare und eine kreisrunde Glatze, mochte wohl um die fünfzig sein, trug eine hellbraune Cordhose und ein schwarzes Jackett sowie eine schmale, viereckige Brille. Als er näherkam, drehte ich mich weg, damit er mein Gesicht nicht sah, denn ich hatte ihn erkannt, er war im ersten Jahr auf dem Gymnasium mein Norwegischlehrer gewesen, wie hieß er noch gleich? Berg? Hügel? Auch egal, dachte ich, und drehte mich wieder um, als er an mir vorbei war. Er war engagiert und warmherzig gewesen, hatte aber auch eine Strenge gehabt, die nur selten aufblitzte, aber wenn sie es tat, hatte ich sie als bösartig empfunden. Nun hob er die Tasche in seiner Hand an, um auf die Armbanduhr zu sehen, ging schneller und verschwand um die Straßenecke.
»Ich muss auch eine rauchen«, meinte Yngve und blieb neben mir stehen.
»Der Mann, der gerade vorbeigegangen ist, war einer meiner früheren Lehrer«, sagte ich.
»Tatsächlich?«, sagte Yngve und zündete sich eine Zigarette an. »Hat er dich wiedererkannt?«
»Keine Ahnung. Ich habe mich weggedreht.«
Ich warf die Kippe weg und suchte in meiner Hosentasche nach einem Kaugummi. Meinte mich zu erinnern, dass dort lose einer lag. Was auch stimmte.
»Ich hab nur einen«, sagte ich. »Sonst hätte ich dir einen abgegeben.«
»Ich glaube dir«, erwiderte er.
Ich war den Tränen nahe, das spürte ich, und atmete mehrmals tief durch, wobei ich die Augen aufriss, um wieder klar sehen zu können. Auf einer Treppe schräg über uns saß ein Alki, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Er hatte den Kopf an die Wand neben sich gelehnt und schien zu schlafen. Sein Gesicht war dunkel und ledern und voller Schrunden. Seine Haare waren so fettig, dass sie sich wie eine Rastafrisur gelegt hatten. Eine dicke Winterjacke, obwohl es mindestens zwanzig Grad war, und eine Tüte mit Gerümpel neben sich. Auf dem Dachfirst über ihm hockten drei Möwen. Als ich den Blick auf sie richtete, legte eine von ihnen den Kopf in den Nacken und schrie.
»Also schön«, sagte Yngve. »Sollen wir es angehen?«
Ich nickte.
Er schnipste seine Zigarette weg, und wir gingen die Straße hinunter.
»Haben wir eigentlich einen Termin?«, sagte ich.
»Nein, haben wir nicht«, antwortete er. »Aber so viel kann ja wohl nicht los sein, oder?«
»Das ist sicher kein Problem«, sagte ich.
Zwischen ein paar Bäumen konnte ich flüchtig den Fluss sehen, und als wir um die Ecke bogen, darüber hinaus alle Reklameschilder, Schaufenster und Autos in der Dronningens gate. Grauer Asphalt, graue Gebäude, grauer Himmel.
Yngve öffnete die Tür zum Beerdigungsinstitut und trat ein. Ich folgte ihm und schloss die Tür hinter mir, und als ich mich wieder umdrehte, lag vor mir eine Art Wartezimmer, mit einer Couch, ein paar Stühlen und einem Tisch an der einen Wand, einem Tresen entlang der anderen. Er war nicht besetzt, und Yngve ging zu ihm hin, lugte in das dahinter liegende Zimmer und klopfte leise mit dem Knöchel auf das
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