Sterben: Roman (German Edition)
möglicherweise in einem größeren Maße für Yngve war. Dass er Vater mehr hasste und es deshalb einfacher war. Welches Verhältnis Yngve ansonsten zu ihm hatte, wusste ich nicht. Die Vorstellung, eines Tages selber Vater zu werden, war für mich ziemlich kompliziert, und als Yngve erzählte, dass Kari Anne ein Kind erwartete, kam ich nicht umhin, darüber zu spekulieren, was für ein Vater Yngve sein würde, ob das, was Vater an uns weitergegeben hatte, in Fleisch und Blut übergegangen war, oder ob es möglich war, sich davon, vielleicht sogar mühelos, loszureißen. Yngve wurde für mich zu einer Art Prüfstein: Klappte es bei ihm, würde es auch bei mir klappen. Und es klappte, in Yngves Verhältnis zu seinen Kindern erinnerte nichts an Vater, alles war anders und in den Rest seines Lebens integriert. Er wies sie niemals zurück, nahm sich immer Zeit für sie, wenn sie zu ihm kamen oder es erforderlich war, drängte sich ihnen aber auch nie auf, will sagen, er benutzte sie nicht, um etwas zu kompensieren oder in seinem Leben zu ersetzen. Situationen, in denen Ylva um sich trat, zappelte, heulte und sich nicht anziehen lassen wollte, bewältigte er mit leichter Hand. Er hatte ein halbes Jahr mit ihr zu Hause verbracht, und die Nähe, die sie in dieser Zeit entwickelt hatten, wirkte immer noch nach. Andere Beispiele als Yngve und Vater konnte ich nicht zu Rate ziehen.
Um uns herum veränderte sich die Landschaft ein weiteres Mal. Jetzt fuhren wir durch Wälder. Südnorwegische Wälder mit gelegentlichen nackten Felsblöcken zwischen den Bäumen, Hügel voller Fichten und Eichen, Espen und Birken, das eine oder andere dunkle Hochmoor, dann plötzlich Wiesen, flaches Heideland, dicht mit Kiefern bewachsen. Als Kind stellte ich mir oft vor, das Meer würde ansteigen und den Wald füllen, so dass die Hügel zu Eilanden würden, zwischen denen man segeln und von denen aus man baden gehen konnte. Von allen Fantasien meiner Kindheit war es die verlockendste; der Gedanke, dass alles von Wasser bedeckt sein würde, faszinierte mich, der Gedanke, dass man schwimmen können würde, wo man jetzt ging, über Wartehäuschen und Häuserdächern schwimmen , vielleicht hinabtauchen und durch eine Tür hineingleiten, eine Treppe hinauf, in ein Zimmer hinein. Oder auch nur durch den Wald mit seinen Hängen und Böschungen, Geröllhalden und alten Bäumen. In einer bestimmten Phase meiner Kindheit bestand mein befriedigendstes Spiel darin, Bäche aufzustauen, woraufhin das Wasser anstieg und Moos, Wurzeln, Gras, Steine und die festgetrampelte Erde auf dem Weg neben dem Bach bedeckte. Es war hypnotisch. Ganz zu schweigen von diesem Keller in dem unfertigen Haus, das wir entdeckten, in dem glänzendes schwarzes Wasser stand, auf das wir in zwei Styroporkisten hinaussegelten, damals war ich ungefähr fünf. Hypnotisch. Gleiches galt im Winter für das Eis, wenn wir mit Schlittschuhen die Bäche hinaufliefen und Gras und Zweige, Reisig und kleine Pflanzen festgefroren im blanken Eis unter uns standen.
Worin bestand diese große Anziehungskraft? Und wohin war sie verschwunden?
Eine andere Fantasievorstellung aus jener Zeit bestand darin, dass zwei riesige Sägeblätter von unserem Auto abstanden, die zu beiden Seiten alles kappten, woran wir vorbeifuhren. Bäume und Laternenmaste, Häuser und Schuppen, aber auch Menschen und Tiere. Wartete jemand auf den Bus, schnitt die Säge ihn mittendurch, so dass der Oberkörper herabfiel wie ein gefällter Baum, während Füße und Unterleib stehenblieben und an der Schnittfläche bluteten.
Mit diesem Gefühl konnte ich mich bis heute identifizieren.
»Da unten ist Søgne«, sagte Yngve. »Von dem Ort habe ich immer wieder gehört, aber ich bin nie dagewesen. Du?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ein paar Mädchen auf dem Gymnasium kamen aus Søgne. Aber ich bin nie dagewesen.«
Dann waren es also nur noch zehn Kilometer.
Unmittelbar darauf begann die Landschaft in Formationen überzugehen, die mir vage bekannt vorkamen und immer vertrauter wurden, bis das, was ich vor dem Fenster sah, mit den Bildern in meinem Inneren vollständig übereinstimmte. Es kam mir vor, als führen wir in eine Erinnerung. Als bewegten wir uns lediglich durch eine Art Kulisse aus unserer Kindheit. Die Einfahrt nach Vågsbygd, wo Hanne gewohnt hatte, die Hennig-Olsen-Fabrik, das Nickelwerk Falconbridge, düster und verdreckt, umgeben von toten Felsen, und schließlich rechterhand der Hafen von Kristiansand mit dem
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