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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Glas, während ich mitten im Raum stehen blieb. An der Kopfwand stand eine Tür einen Spaltbreit offen, und ich sah eine männliche Gestalt in dem Büro dahinter in einem schwarzen Anzug vorbeigehen. Er sah jung aus, jünger als ich.
    Eine Frau mit blonden Haaren und breiten Hüften, die auf die fünfzig zugehen mochte, kam heraus und nahm hinter dem Tresen Platz. Yngve sagte etwas zu ihr, aber ich hörte nicht, was, nur den Klang seiner Stimme.
    Er drehte sich um.
    »Es kommt gleich jemand«, sagte er. »Wir müssen fünf Minuten warten.«
    »Es ist irgendwie, als wollten wir zum Zahnarzt«, sagte ich, nachdem wir uns hingesetzt hatten.
    »Wenn das so ist, wird er sicher in unserer Seele bohren«, meinte Yngve.
    Ich grinste. Mir fiel der Kaugummi ein, den ich daraufhin aus dem Mund nahm und in meiner Hand verbarg, während ich nach einer Möglichkeit suchte, ihn wegzuwerfen. Es gab keine. Ich riss ein Stück von einer Zeitung auf dem Tisch ab, wickelte ihn darin ein und stopfte das kleine Päckchen in die Hosentasche.
    Yngve trommelte mit den Fingern auf der Armlehne.
    Ach ja, ich war noch auf einer zweiten Beerdigung gewesen. Wie hatte ich das vergessen können? Es war die Bestattung eines jungen Menschen gewesen, und in der Kirche hatte eine hysterische Stimmung geherrscht, es war geweint, gejammert, geschrien und gestöhnt und geschluchzt, aber auch gelacht und gekichert worden, und zwar in Wellen, denn ein Schrei konnte erdrutschartig neue Gefühlsausbrüche auslösen, in der Kirche tobte ein Sturm, und Ausgangspunkt für das alles war der weiße Sarg am Altar, in dem Kjetil lag. Er hatte sich totgefahren, war frühmorgens am Lenkrad eingeschlafen, von der Straße abgekommen und in einen Zaun gefahren, eine Eisenstange hatte seinen Kopf durchbohrt. Er war achtzehn Jahre alt geworden. Er war einer von denen, die jeder gern hatte, die immer gutgelaunt waren und niemandem gefährlich wurden. Als wir von der Gesamtschule abgingen, wählte er die gleiche Berufsschulausbildung wie Jan Vidar, deshalb war er auch so früh unterwegs gewesen, denn seine Arbeit in der Bäckerei begann um vier Uhr morgens. Als ich im Radio von dem Unglück hörte, dachte ich, es ginge um Jan Vidar, und war erleichtert, als mir klar wurde, dass ich mich geirrt hatte, aber auch traurig, wenn auch nicht so traurig, wie die Mädchen in unserer alten Klasse, die ihren Gefühlen freien Lauf ließen, was ich weiß, weil ich mit Jan Vidar in den Tagen nach dem Todesfall alle aufsuchte, um Namen und Geld für einen Kranz zu sammeln. Wohl war mir dabei nicht, denn ich hatte das Gefühl, Anspruch auf eine Beziehung zu Kjetil zu erheben, zu der ich kein Recht hatte, so dass ich mich zurückhielt und möglichst unauffällig benahm, während ich mit Jan Vidar herumfuhr, der Trauer, Wut, ein schlechtes Gewissen ausstrahlte.
    Ich erinnere mich noch gut an Kjetil, kann ihn jederzeit vor mir sehen, seine Stimme in meinem Inneren hören, aber aus den vier Jahren, die wir uns kannten, ist mir nur ein konkretes Ereignis, etwas völlig Unerhebliches, im Gedächtnis geblieben: Jemand ließ auf der Stereoanlage im Schulbus Our house mit Madness laufen, und Kjetil, der neben mir stand, lachte darüber, wie schnell der Sänger sang. Alles andere habe ich vergessen. Aber im Keller verwahrte ich immer noch ein Buch, das er mir geliehen hatte: Das ABC der Führerscheinprüfung. Auf dem Titelblatt stand sein Name in dieser kindlichen Handschrift, die fast alle in unserer Generation haben. Ich hätte es sicher zurückgeben sollen, aber wem? Dieses Buch war bestimmt das Letzte, was seine Eltern sehen wollten.
    Die Schule, die er und Jan Vidar besucht hatten, lag nur einen Häuserblock von dem Ort entfernt, an dem ich nun mit Yngve wartete. Abgesehen von ein paar Wochen zwei Jahre zuvor war ich seit damals kaum mehr in der Stadt gewesen. Ein Jahr in Nordnorwegen, ein halbes Jahr auf Island, ein knappes halbes Jahr in England, ein Jahr in Volda, neun Jahre in Bergen. Und abgesehen von Bassen, mit dem ich mich noch sporadisch traf, hatte ich zu niemandem aus der Zeit mehr Kontakt. Mein ältester Freund war Espen Stueland, den ich vor zehn Jahren während des Grundstudiums der Literaturwissenschaft in Bergen kennengelernt hatte. Es war keine bewusste Wahl gewesen, hatte sich einfach so ergeben. Für mich war Kristiansand eine versunkene Stadt. Dass fast alle, die ich damals kannte, hier immer noch wohnten und ihr Leben führten, war zwar meinem Verstand, nicht jedoch meinen

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