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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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einem Eimer darunter neben ihrem Bett. Überall lagen Kleider. Im Fenster standen vertrocknete Pflanzen. Der Gestank von Ammoniak stach einem in die Nase.
    Was war das hier nur für eine Scheiße. Eine gottverdammte Megascheiße.
    Ich stellte die Tür so, wie sie gewesen war, und stieg langsam die Treppe hinauf. Der Handlauf war an manchen Stellen fast schwarz von einem Belag. Ich legte die Hand darauf und fühlte, dass er klebrig war. Auf dem oberen Treppenabsatz hörte ich das Geräusch des Fernsehers. Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Großmutter mitten im Zimmer und starrte auf den Bildschirm. Sie schaute die Nachrichten im zweiten Programm. Dann musste es zwischen halb sieben und sieben sein.
    Wie konnte sie nur neben dem Sessel sitzen, in dem er gestorben war?
    Mein Magen zog sich zusammen, und die Tränen, die ich fast eruptiv vergoss, und die Grimassen, derer ich nicht Herr wurde, waren unendlich weit vom Brechreiz entfernt, und das Gefühl von Ungleichgewicht und Asymmetrie überwältigte mich fast panikartig, so dass es mir vorkam, als würde ich zerrissen. Hätte ich gekonnt, ich wäre auf die Knie gefallen und hätte die Hände gefaltet und Gott angerufen, aber es ging nicht, es lag keine Gnade darin, das Schlimmste war bereits geschehen, es war vorbei.
    Als ich in die Küche kam, war sie verwaist. Alle Schränke waren sauber, und obwohl noch viel zu tun blieb, Wände und Fußboden, Schubladen, Tisch und Stühle, wirkte der Raum nun freundlicher. Auf der Arbeitsplatte stand eine der Anderthalbliter-Plastikbierflaschen. Kleine Perlen Kondenswasser bedeckten das Etikett. Daneben standen ein Molkenkäse mit dem Käsehobel darauf und ein Stück Gouda und Margarine, in der schräg das Buttermesser steckte, der Griff ruhte leicht auf dem Rand. Das Schneidebrett war herausgezogen worden, und darauf lag, halb in einer rotweißen Papiertüte steckend, ein Vollkornbrot. Davor das Brotmesser, die Brotkruste, Krümel.
    Ich holte eine Plastiktüte aus der untersten Schublade und leerte die beiden Aschenbecher auf dem Tisch darin aus, verknotete sie und legte sie in den schwarzen Müllsack, der halbvoll in der Ecke stand, besorgte mir einen Putzlappen und säuberte den Tisch von Tabakresten und Krümeln, platzierte die Tabakbeutel und ihre Zigarettendrehmaschine auf dem Karton mit Zigarettenhülsen am einen Ende des Tischs, direkt unter der Fensterbank, öffnete das Fenster und hakte es fest. Anschließend ging ich Yngve suchen. Wie ich mir bereits gedacht hatte, saß er auf der Veranda. Er hielt ein Glas Bier in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen.
    »Möchtest du ein Glas?«, sagte er, als ich hinauskam. »In der Küche steht eine Flasche.«
    »Nein, danke«, erwiderte ich. »Nicht nach dem, was hier passiert ist. Ich werde nie wieder Bier aus Plastikflaschen trinken.«
    Er sah mich an und grinste.
    »Du bist so empfindlich«, sagte er. »Die Flasche war noch zu. Sie stand im Kühlschrank. Es ist ja nicht so, dass er aus ihr getrunken hat.«
    Ich zündete mir eine Kippe an und lehnte mich mit dem Rücken ans Geländer.
    »Was machen wir mit dem Garten?«, sagte ich.
    Yngve zuckte mit den Schultern.
    »Wir können hier nicht alles in Ordnung bringen.«
    »Ich möchte das«, sagte ich.
    »Aha?«
    »Ja.«
    Das war der richtige Moment, um ihm von meinem Plan zu erzählen. Aber ich konnte mich nicht überwinden. Ich wusste, dass Yngve Einwände erheben würde, und die dadurch auftauchende Uneinigkeit hatte etwas an sich, was ich weder sehen noch erleben wollte. Oh, es waren Kleinigkeiten, aber hatte mein Leben jemals aus etwas anderem bestanden? Als wir Kinder waren, bewunderte ich Yngve, wie alle kleinen Brüder ihre großen Brüder bewundern, von keinem war mir ein Lob so wichtig wie von ihm, und obwohl er ein bisschen zu alt dafür war, als dass unsere Wege sich gekreuzt hätten, wenn wir draußen unterwegs waren, hielten wir zu Hause zusammen. Natürlich waren wir nicht gleichgestellt, denn in der Regel bestimmte er, aber wir standen uns trotzdem nahe. Auch weil wir uns mit demselbem Feind konfrontiert sahen, will sagen, Vater.
    Mir waren nicht sonderlich viele konkrete Ereignisse aus meiner Kindheit in Erinnerung geblieben, aber die wenigen, derer ich mich entsann, waren bezeichnend. Dass wir uns oft über Nichtigkeiten totlachten wie damals, als wir in England zelteten, in jenem Sommer 1976, der so ungewöhnlich heiß war, und eines Abends einen Hügel in der Nähe des Campingplatzes hinaufgingen und ein

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