Sterben: Roman (German Edition)
Auto an uns vorbeifuhr und Yngve sagte, die beiden Insassen hätten sich geküsst, ich aber »gepisst« verstand und wir uns minutenlang vor Lachen krümmten, ein Lachen, das sich den ganzen restlichen Abend bei jeder kleinsten Gelegenheit von Neuem Bahn brach.
Wenn es etwas gab, was ich aus meiner Kindheit vermisste, dann wohl das, mit meinem Bruder aus irgendeinem nichtigen Grund hemmungslos lachen zu können. Wie wir auf dem Platz neben dem Zelt im selben Urlaub zusammen mit zwei englischen Jungen Fußball spielten, Yngve mit seiner Leeds-Kappe, ich mit meiner Liverpool-Kappe, die Sonne, die über dem Land unterging, die Dunkelheit, die ringsum wuchs, die leisen Stimmen aus den Zelten in der Nähe, ich, der ich kein Wort von dem verstand, was die beiden sagten, Yngve der stolz übersetzte. Das Schwimmbecken, zu dem wir eines Morgens gingen, bevor wir weiterfuhren, und in dem ich, als Nichtschwimmer, dennoch ins tiefe Wasser geriet, in dem ich mich an einen Plastikball klammerte, der mir jedoch plötzlich entglitt, so dass ich unterging, und das in einem Becken, in dem wir allein waren, Yngve, der um Hilfe rief, der junge Mann, der hinrannte und mich herauszog, und nachdem ich etwas Chlorwasser ausgerülpst hatte, war mein erster Gedanke gewesen, dass meine Eltern nicht erfahren durften, was passiert war. Tage wie diese, mit solchen Ereignissen, gab es unzählige, und die Verbindung, die sie zwischen uns schufen, war untrennbar. Dass er mich häufig boshafter behandelte als alle anderen, änderte daran nichts, sondern gehörte dazu, und innerhalb des Zusammenhangs, in dem wir lebten, war der Hass auf ihn, den ich in solchen Momenten empfand, kaum mehr als ein Bach für ein Meer, eine Kerze für eine Nacht. Er wusste genau, was er sagen musste, um mich so wütend zu machen, dass ich vollkommen außer mich geriet. Er saß da, ganz ruhig, mit seinem spöttischen Lächeln, und hänselte mich, bis mich die Wut packte und ich buchstäblich nicht mehr klar sehen konnte, sondern schwarz sah und nicht mehr wusste, was ich tat. Ich warf die Tasse in meiner Hand mit voller Wucht nach ihm oder eine Brotscheibe, wenn ich die gerade in der Hand hielt, oder eine Orange, wenn ich mich denn nicht auf ihn stürzte und losschlug, geblendet von Tränen und schwarzem Zorn, während er das Ganze kontrollierte und meine Hände festhielt und ist ja gut, ist ja gut, mein Kleiner, bist du jetzt wütend, du armes Ding sagte. Er wusste zudem von all meinen Ängsten; wenn Mutter Spätschicht hatte und Vater in einer Sitzung des Gemeinderats saß und im Fernsehen die Wiederholung einer Folge der Science-Fiction-Serie Der blinde Passagier lief, die sonst immer spätabends ausgestrahlt wurde, damit Kinder in meinem Alter nicht zusahen, war es für ihn ein Leichtes, alle Lichter im Haus zu löschen, die Haustür abzuschließen, sich zu mir umzudrehen und zu sagen: Ich bin nicht Yngve. Ich bin ein blinder Passagier , während ich vor Angst aufschrie und bettelte und ihn anflehte zu sagen, dass er Yngve war, sag es, sag es, du bist Yngve, ich weiß es, Yngve, Yngve, du bist kein blinder Passagier, du bist Yngve … Darüber hinaus wusste er, dass ich mich vor dem Geräusch fürchtete, das in den Rohren entstand, wenn man das heiße Wasser aufdrehte, ein schneidender Laut, der bald in ein Hämmern überging, das mir keine andere Wahl ließ, als zu flüchten, so dass wir verabredeten, dass er, nachdem er sich morgens am Waschbecken gewaschen hatte, den Stopfen nicht ziehen, sondern das Wasser für mich stehen lassen würde. Für die Zeit von etwa einem halben Jahr wusch ich mir folglich das Gesicht und die Hände in Yngves Wasser.
Als er mit siebzehn Jahren zu Hause auszog, veränderte sich unsere Beziehung natürlich. Als das Alltägliche verschwand, wuchs mein Bild von ihm und seinem Dasein, vor allem von dem in Bergen, wohin er später zum Studieren zog. Wie er lebte, wollte auch ich leben.
Als ich in die erste Klasse des Gymnasiums ging, besuchte ich ihn dort im Herbst im Studentenwohnheim Alrek, wo er ein Zimmer hatte. Als ich im Stadtzentrum aus dem Flughafenbus stieg, ging ich als Erstes in einen Laden und kaufte mir eine Schachtel Prince Denmark und ein Feuerzeug. Ich hatte noch nie geraucht, aber seit langem geplant, es zu tun, und alleine in Bergen, hatte ich mir überlegt, würde sich die Chance dazu ergeben. Und so stand ich dort, unter der grünen Kirchturmspitze der Johannes-Kirche, den Platz und die Straße Torgallmeningen vor mir,
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