Sterben: Roman (German Edition)
die nicht nur wussten, wer ich war, wenn ich ihnen begegnete, sondern auch, was ich so machte, zum Beispiel, dass ich eine eigene Musiksendung bei einem lokalen Radiosender hatte und in der Zeitung Fædrelandsvennen Platten und Konzerte besprach, und nach diesen Begegnungen erzählte Yngve mir immer, was man über mich gesagt hatte, vor allem die Mädchen hatten oft das Bedürfnis, etwas über mich zu sagen, dass ich gut aussah oder reif für mein Alter war und so weiter, aber auch die Jungen, insbesondere ein Kommentar ging mir dabei nahe, nämlich Arvids, dass ich dem Jungen in Viscontis Der Tod in Venedig so ähnlich sähe. Ich war für sie jemand, und das hatte ich Yngve zu verdanken. Er nahm mich in die Vindil-Skihütte mit, wo er sich jedes Jahr an Silvester mit seinen Freunden traf, und in einem Sommer, in dem ich in Arendal auf der Straße Musikkassetten verkaufte und im Geld schwamm, gingen wir fast jeden Abend aus, und eines Abends, entsinne ich mich, war Yngve überrascht, aber auch stolz, weil ich fünf Flaschen Wein trank und mich weiter halbwegs ordentlich benehmen konnte. Der Sommer endete damit, dass ich mit der Schwester von Yngves Freundin zusammenkam. Er machte damals mit seiner Nikon-Spiegelreflexkamera eine Menge Bilder von mir, alle in Schwarzweiß, alle ungeheuer gestellt, und einmal gingen wir auch gemeinsam zu einem Fotografen, weil unsere Großeltern Weihnachten ein Bild von uns geschenkt bekommen sollten, aber die Aufnahme landete auch in der Ausstellungsvitrine des Fotografen im Foyer des Kinos von Kristiansand, wo jeder, der wollte, uns in unseren Achtzigerjahreklamotten und -frisuren posieren sehen konnte. Yngve in einem hellblauen Hemd, ein Lederbändchen ums Handgelenk, lange Haare im Nacken, kurze auf dem Scheitel, ich in meinem schwarzweiß karierten Hemd, meinem schwarzen Jackett mit hochgeschlagenen Ärmeln, meinem Nietengürtel und meiner schwarzen Hose, die Haare im Nacken noch länger und auf dem Scheitel noch kürzer als Yngves, und darüber hinaus ein Kreuz, das an einem Ohr baumelte. Ich ging damals oft ins Kino, meistens mit Jan Vidar oder einem anderen aus Tveit, und wenn ich das Bild dort hängen sah, in der beleuchteten Vitrine, gelang es mir niemals ganz, es mit mir in Verbindung zu bringen, will sagen mit dem Leben, das ich in Kristiansand führte, dem eine gewisse äußerliche, objektive Qualität eigen war, weil es an bestimmte Räume anknüpfte wie die Schule, die Sporthalle, das Stadtzentrum, und an bestimmte Menschen, meine Freunde, die Klassenkameraden, die Mannschaftskameraden, während das Foto in ganz anderer Weise mit etwas Intimen und Verborgenen verbunden war, vor allem dem engeren Familienkreis, aber auch mit dem Menschen, zu dem ich eines Tages werden würde, wenn ich endlich fortkam. Während Yngve seinen Freunden von mir erzählte, erwähnte ich ihn meinen gegenüber nie.
Dass dieser innere Raum mitten im äußeren zur Betrachtung freigegeben hing, war sowohl verwirrend als auch unangenehm. Aber abgesehen von ein paar Bemerkungen interessierte sich keiner dafür, da ich niemand war, für den man sich interessierte.
Als ich 1987 endlich Abitur gemacht hatte, ging ich aus irgendeinem Grund dann doch nicht nach Bergen, sondern zog in eine kleine Ortschaft auf einer Insel in Nordnorwegen, wo ich ein Jahr als Aushilfslehrer arbeitete. Ich hatte den Plan, abends an meinem Roman zu schreiben und mit den Ersparnissen aus meinem Lehrerjob ein Jahr durch Europa zu reisen; ich kaufte ein Buch, in dem alle möglichen und unmöglichen Aushilfsjobs in europäischen Ländern beschrieben wurden, und genau so stellte ich mir das vor, von Stadt zu Stadt und Land zu Land zu reisen, ein bisschen zu arbeiten, ein bisschen zu schreiben und ein freies und unabhängiges Leben zu führen, aber dann bekam ich mit den Texten, die ich im Laufe dieses Jahres geschrieben hatte, einen Studienplatz an der neu gegründeten Akademie für Schreibkunst in Hordaland, und da es mir unendlich schmeichelte, dass man mich angenommen hatte, verwarf ich alle Pläne und nahm neunzehnjährig Kurs auf Bergen, wo ich trotz aller Träume und Fantasien von einem Vagabundenleben in der weiten Welt die nächsten neun Jahre blieb.
Und es begann gut. Als ich am Fischmarkt aus dem Flughafenbus stieg, schien die Sonne, und Yngve, der an den Wochenenden und in den Semesterferien als Portier im Hotel Orion arbeitete, war gut gelaunt, als ich zur Rezeption kam, er müsse noch eine halbe Stunde arbeiten, dann
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