Sterben: Roman (German Edition)
es Samstagabend war.
Warum hatte sie uns gefragt, ob wir trinken würden? Lag es nur an Vaters Schicksal oder an etwas anderem?
Ich dachte an die Zeit zurück, als ich zehn Jahre zuvor in dieser Stadt als Abiturient gelebt hatte, und daran, wie betrunken ich damals bei der Parade gewesen war, Großmutter und Großvater, die in der Menschenmenge am Straßenrand standen und mich zu sich gerufen hatten, ihre angestrengten Mienen, als sie begriffen, in welcher Verfassung ich war. Seit ich Ostern mit der Fußballmannschaft zu einem Trainingslager in der Schweiz gewesen war, trank ich das ganze Frühjahr über regelmäßig, es gab immer einen Anlass, immer eine Fete, immer jemanden, der mit einem trank, und im traditionellen Abiturientenanzug war alles erlaubt und wurde alles verziehen. Für mich war es das Paradies, aber für Mutter, die mit mir zusammenwohnte, sah die Sache anders aus, und dann warf sie mich hinaus, was mir jedoch egal war, denn nichts war einfacher, als einen Platz zum Schlafen zu finden, entweder auf einer Couch im Partykeller bei einem Schulkameraden oder im Festbus der Abiturienten oder unter einem Strauch im Park. Großmutter und Großvater betrachteten die Zeit nach dem Abitur als Übergangsphase zum akademischen Leben, denn so war es für Großvater gewesen und später auch für seine Söhne, es war eine Festzeit, die ich in den Schmutz zog, weil ich so sturzbetrunken und high war und weil ich als Redakteur der Abiturzeitung den scherzhaften Artikel auf der Titelseite über eine Deportation der Insel Flekkerøya vor Kristiansand mit einem Bild von Juden illustrierte, die aus den Ghettos in die Vernichtungslager deportiert wurden. Auch das war eine Frage der Tradition; mein Vater war zu seiner Zeit ebenfalls Redakteur der Abiturzeitung gewesen. So zog ich alles in den Dreck.
Daran verschwendete ich damals jedoch keinen Gedanken, wie sich dem Tagebuch, das ich damals führte, eindeutig entnehmen ließ, das Einzige, was in ihm herausstach, war das Glücksgefühl.
Mittlerweile hatte ich alle Tagebücher und Notizen verbrannt; von dem Menschen, der ich bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag gewesen war, gab es kaum noch eine Spur und das aus gutem Grund; von dort kam nichts Gutes.
Die Luft war einen Hauch kühler geworden, und da meine Haut nach der Arbeit so erhitzt war, wurde mir bewusst, wie sie mich umschloss, sich gegen meine Haut presste und in den Mund strömte, wenn ich ihn öffnete. Wie sie die Bäume vor mir umschloss, die Häuser, die Autos, die Berghänge. Wie sie an eine Stelle strömte, sobald die Temperatur fiel, diese fortwährenden Lawinen am Himmel, die wir nicht sehen konnten, und dass riesige Wellen auf uns zutrieben, immer in Bewegung, langsam fallend, rasch wirbelnd, in all diese Lungen hinein und wieder hinaus, gegen all diese Wände und Ecken schlagend, immer unsichtbar, immer gegenwärtig.
Doch Vater atmete nicht mehr. Das war ihm widerfahren, die Verbindung zur Luft war gekappt worden, jetzt presste sie sich nur noch gegen ihn wie gegen irgendein Ding, einen Holzstock, einen Benzinkanister, eine Couch. Er drang nicht mehr in die Luft ein, denn das tut man, wenn man atmet, man tritt in sie ein, immer und immer wieder tritt man in die Welt ein.
An irgendeinem Ort in dieser Stadt lag er jetzt.
Ich wandte mich um und ging hinein, gleichzeitig öffnete jemand auf der anderen Straßenseite ein Fenster, und Musik und laute Stimmen schallten heraus.
Obwohl die zweite Toilette kleiner und nicht ganz so verdreckt war, brauchte ich genauso lange, um sie zu putzen. Als ich fertig war, nahm ich Putzmittel, Lappen, Handschuhe und Eimer und ging in die erste Etage hinauf. Yngve und Großmutter saßen am Küchentisch. Auf der Wanduhr hinter ihnen war es halb zehn.
»Jetzt müsst ihr aber wirklich fertig sein mit Putzen!«, sagte Großmutter.
»Allerdings«, sagte ich. »Jetzt sind wir für heute Abend fertig.«
Ich sah Yngve an.
»Hast du heute mit Mama gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Habe ich gestern gemacht.«
»Ich hatte versprochen, sie heute anzurufen. Aber ich glaube, das packe ich jetzt nicht mehr. Es ist vielleicht auch schon ein bisschen spät.«
»Ruf sie morgen an«, meinte Yngve.
»Aber mit Tonje muss ich noch sprechen. Ich mach das mal.«
Ich ging ins Esszimmer und schloss die Tür zur Küche hinter mir. Saß eine Weile auf dem Stuhl, um mich zu sammeln, wählte dann unsere Telefonnummer. Sie meldete sich sofort, als hätte sie am Telefon
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