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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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ihm einfällt. ›Mein Vater ist tot.‹«
    »Stimmt«, sagte Yngve.
    Ich streifte Hose und Socken ab und legte mich hin. Erst auf den Rücken, die Hände auf dem Bauch gefaltet, bis ich erkannte, dass ich dalag wie ein Toter, und mich entsetzt auf die Seite drehte, so dass ich direkt auf meine Kleider sah, die in einem Haufen auf dem Fußboden lagen. Verdammt, so lasse ich die nicht liegen, dachte ich und setzte die Füße erneut auf den Boden, faltete Hose und T-Shirt zusammen und legte sie auf den Stuhl daneben, die Socken darauf.
    Yngve schaltete auf seiner Seite das Licht aus.
    »Willst du noch lesen?«, sagte er.
    »Nein, bestimmt nicht«, antwortete ich und tastete an dem Kabel nach einem Schalter. Soweit ich es erfühlen konnte, gab es jedoch keinen. Vielleicht an der Lampe? Ja, da war er.
    Ich drückte fest darauf, denn der alte Mechanismus widersetzte sich. Die Lampen stammten sicher noch aus den fünfziger Jahren. Aus der Zeit, in der sie hierhergezogen waren.
    »Dann gute Nacht«, sagte Yngve.
    »Gute Nacht«, erwiderte ich.
    Oh, ich war froh, dass er da war. Alleine hätte sich mein Kopf mit Bildern von Vater als Leiche gefüllt, ich hätte an nichts anderes gedacht als an die körperliche Seite des Todes, an seinen Leib, die Finger und Beine, die blinden Augen, die Haare und Nägel, die weiterwuchsen. An den Raum, in dem er lag, womöglich in einem dieser schubladenartigen Dinger, die es immer in den Leichenhäusern in amerikanischen Filmen gab. So aber schenkten Yngves Atemzüge und die Geräusche seiner vielen kleinen Bewegungen mir Ruhe. Ich brauchte nur die Augen zu schließen und den Schlaf zu mir kommen zu lassen.
    Zwei Stunden später wurde ich davon geweckt, dass Yngve mitten im Zimmer stand. Erst schaute er sich ein wenig zaudernd um, dann griff er nach seiner Decke, rollte sie zusammen und trug sie in den Armen durchs Zimmer und zur Tür hinaus, wandte sich um und kehrte zurück. Als er dasselbe nochmal tun wollte, sagte ich:
    »Du schlafwandelst, Yngve. Leg dich wieder hin.«
    Er sah mich an.
    »Ich bin kein Schlafwandler«, entgegnete er. »Die Decke muss dreimal über die Türschwelle getragen werden.«
    »Okay«, sagte ich. »Wenn du meinst.«
    Er ging weitere zwei Male im Zimmer hin und her. Dann legte er sich ins Bett und deckte sich zu. Warf den Kopf mehrfach hin und her und murmelte etwas.
    Es war nicht das erste Mal, dass er schlafwandelte. In unserer Kindheit war Yngve ein notorischer Schlafwandler gewesen. Einmal hatte Mutter ihn in der Badewanne gefunden, nackt hatte er darin gesessen und Wasser eingelassen, ein anderes Mal hatte sie ihn auf der Straße vor dem Haus gerade noch zu packen bekommen, als er zu dem Haus wollte, in dem Rolf wohnte, um ihn zu fragen, ob er Fußball spielen wolle. Unvermittelt hatte er seine Decke von sich geworfen und für den Rest der Nacht fürchterlich gefroren. Auch Vater war Schlafwandler. So war er mitten in der Nacht in mein Zimmer gekommen, hatte nur in Unterhose beispielsweise einen Schrank geöffnet und hineingesehen oder ohne Anzeichen eines Wiedererkennens in den Augen zu mir herübergeschaut. Gelegentlich hörte ich ihn im Wohnzimmer poltern, dann stellte er die Möbel um. Einmal hatte er sich unter den Couchtisch gelegt und den Kopf so hart gestoßen, dass er blutete. Wenn er nicht schlafwandelte, redete oder schrie er im Schlaf, und wenn er das nicht tat, knirschte er mit den Zähnen. Mutter sagte immer, es sei, als wäre man mit einem Seemann im Krieg verheiratet. Ich selbst hatte eines Nachts in den Schrank gepinkelt, ansonsten jedoch nur im Schlaf geredet, bis ich in die Pubertät kam und phasenweise sehr aktiv wurde. In jenem Sommer, in dem ich in Arendal auf der Straße Musikkassetten verkaufte und in Yngves Bude wohnte, hatte ich mir sein Federmäppchen genommen und war nackt auf den Hof hinausgegangen, hatte mich vor jedes einzelne Fenster gestellt und hineingeschaut, bis es Yngve schließlich gelang, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich leugnete, schlafgewandelt zu sein, der Beweis war das Mäppchen, ich hatte einkaufen gehen wollen. Unzählige Male hatte ich am Fenster gestanden und die Erde verschwinden oder sich erheben, Wände herabfallen oder Wasser aufsteigen sehen. Einmal hatte ich im Zimmer gestanden, die Wand hochgehalten und Tonje zugerufen, sie solle hinausrennen, das Haus stürze ein. Ein anderes Mal hatte ich mir eingebildet, dass sie im Schrank lag, und hatte alle Kleider hinausgeworfen, um sie zu finden. Wenn ich

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