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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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irgendwo mit anderen Personen als ihr in einem Raum übernachten sollte, warnte ich die Leute immer für den Fall, dass etwas vorfallen sollte, und auf einer Reise mit meinem Freund Tore zwei Jahre zuvor, wir hatten eine sogenannte Autorenwohnung in einem großen Gutshof nahe Kristiansand gemietet, um ein Filmdrehbuch zu schreiben, rettete diese Vorsichtsmaßnahme die Situation, denn wir schliefen im selben Zimmer, und ich war mitten in der Nacht aufgestanden und zu ihm gegangen, hatte ihm die Decke weggerissen, seine Fußgelenke gepackt und zu ihm, der zu Tode erschreckt zu mir aufblickte, gesagt: Du bist nur eine Puppe . Die am häufigsten wiederkehrende Zwangsvorstellung bestand jedoch darin, dass ein Otter oder ein Fuchs in meine Decke geraten war, die ich daraufhin auf die Erde warf, um auf ihr herumzutrampeln, bis ich sicher sein konnte, dass das Tier tot war. Manchmal verstrich ein Jahr ohne nächtliche Vorfälle, dann begannen plötzlich Phasen, in denen keine Nacht mehr verging, ohne dass ich schlafwandelte. Ich erwachte auf Dachböden, in Fluren, auf Höfen, stets mit irgendeiner Betätigung beschäftigt, die mir in dem Moment vollkommen sinnvoll erschien, die sich nach dem Aufwachen jedoch ausnahmslos als vollkommen sinnlos herausstellte.
    Seltsam an Yngves nächtlichem Treiben war, dass er im Schlaf manchmal den ostnorwegischen Dialekt sprach. Er war mit vier Jahren aus Oslo weggezogen und hatte den dortigen Dialekt folglich seit beinahe dreißig Jahren nicht mehr gesprochen. Trotzdem kam er ihm im Schlaf manchmal über die Lippen. Das war irgendwie unheimlich.
    Ich sah ihn an. Er lag auf dem Rücken, ein Bein war nicht zugedeckt. Man hatte uns immer gesagt, wir sähen uns ähnlich, aber wenn das stimmte, musste es sich auf den Gesamteindruck beziehen, den wir vermittelten, denn ging man Teil für Teil durch, bestand keine große Ähnlichkeit, möglicherweise mit Ausnahme der Augenpartie, die wir beide von Mutter geerbt hatten. Als ich jedoch nach Bergen zog und eher flüchtigen Bekannten von Yngve begegnete, fragten sie gelegentlich: »Bist du Yngve?« Dass ich nicht Yngve war, schwang schon in der Frage mit, denn hätten sie es wirklich geglaubt, hätten sie mich natürlich nicht gefragt. Sie stellten die Frage, weil sie die Ähnlichkeit frappierend fanden.
    Er drehte den Kopf auf dem Kissen zur Seite, als würde er ahnen, dass er gemustert wurde, und wollte sich dem widersetzen. Ich schloss die Augen. Er hatte häufig erklärt, Vater habe bei einigen Gelegenheiten sein Selbstwertgefühl völlig zerstört, ihn gedemütigt, wie nur Vater dies konnte, und dass diese Phasen seinem Leben einen Stempel aufgedrückt hatten, in denen er sich einbildete, nichts zu können, nichts wert zu sein. Und dann die anderen Phasen, in denen alles klappte, alles lief, keine Zweifel existierten. Als Außenstehender sah man nur Letzteres.
    Auch mein Selbstbild hatte Vater natürlich geprägt, aber vielleicht anders, jedenfalls hatte ich niemals Phasen voller Selbstzweifel, gefolgt von Phasen voller Glauben an mich gehabt, bei mir ging das alles ständig durcheinander, und die Zweifel, die so typisch für einen Großteil meiner Gedankenwelt waren, richteten sich nie auf das Große, sondern immer nur auf das Kleine, auf Dinge, die mit meiner nächsten Umgebung zu tun hatten, Freunde, Bekannte, Mädchen, die, davon war ich fest überzeugt, herzlich wenig von mir hielten, einen Idioten in mir sahen, was in mir brannte, täglich in mir brannte, aber wenn es um Großes ging, bezweifelte ich nie, dass ich so weit kommen könnte, wie ich wollte, ich wusste, dass es in mir steckte, denn mein Streben war so mächtig und gab niemals Ruhe. Wie sollte es Ruhe geben können? Wie sollte ich sonst über alle triumphieren können?
    Als ich das nächste Mal wach wurde, stand Yngve am Fenster und knöpfte sein Hemd zu.
    »Wie viel Uhr ist es?«, sagte ich.
    Er drehte sich um.
    »Halb sieben. Reichlich früh für dich?«
    »Ja, das kann man wohl sagen.«
    Er trug eine dünne, khakifarbene Hose dieser halblangen Sorte, die bis unter die Knie reichte, und ein grau gestreiftes Hemd, das über die Hose hing.
    »Ich gehe schon mal runter«, sagte er. »Kommst du nach?«
    »Ja, klar«, sagte ich.
    »Du schläfst nicht wieder ein?«
    »Nein.«
    Als seine Schritte auf der Treppe verhallten, schwang ich die Füße auf den Boden und nahm meine Kleider vom Stuhl. Unzufrieden blickte ich auf meinen Bauch, wo die beiden Rettungsringe sich inzwischen bis zu

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