Sterben: Roman (German Edition)
Andererseits war er nicht in der Kirche.«
»War er nicht?«, sagte Yngve. »Ich wusste, dass er nicht gläubig war, aber nicht, dass er ausgetreten ist.«
»Doch. Das hat er mir mal erzählt. Als ich sechzehn wurde, bin ich noch am selben Tag ausgetreten und habe ihm bei irgendeinem Abendessen, zu dem ich in die Elvegaten eingeladen war, davon erzählt. Er wurde wütend. Woraufhin Unni meinte, er sei doch ausgetreten und könne folglich nicht wütend sein, weil ich das Gleiche getan hätte.«
»Es hätte ihm nicht gefallen«, sagte Yngve. »Er wollte mit der Kirche nichts zu tun haben.«
»Aber jetzt ist er tot«, entgegnete ich. »Und ich will es so. Ich will da nicht mit so einem ausgedachten Pseudoritual stehen und irgendein dämliches Gedicht vorlesen. Ich will, dass er ordentlich bestattet wird. Mit Würde.«
»Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte Yngve.
Ich wandte mich wieder um und blickte auf die Stadt hinunter, von der gleichmäßiges Rauschen aufstieg, gelegentlich in den Hintergrund gedrängt von einem plötzlich aufheulenden Motor, häufig von der Brücke her, wo die Jugendlichen sich um diese Uhrzeit damit amüsierten, schnell zu beschleunigen, aber auch von der langen, schnurgeraden Dronningens gate.
»Ich gehe ins Bett«, sagte Yngve. Er ging ins Wohnzimmer, ohne die Tür hinter sich zuzumachen. Ich drückte meine Zigarette auf dem Boden aus und folgte ihm. Als Großmutter begriff, dass wir schlafen gehen würden, rappelte sie sich auf und wollte uns Bettwäsche holen.
»Wir machen das schon«, sagte Yngve. »Kein Problem. Leg du dich ruhig hin!«
»Bist du sicher?«, sagte sie, klein und gebeugt stand sie in der Türöffnung zum Treppenhaus und schaute zu ihm hoch.
»Aber ja«, sagte Yngve. »Wir machen das schon.«
»Ja, ja«, meinte sie. »Na dann, gute Nacht.«
Und damit ging sie langam, ohne sich umzudrehen, die Treppe hinunter.
Mir schauderte vor Unbehagen.
In der obersten Etage gab es kein fließend Wasser, so dass wir hoch gingen und unsere Zahnbürsten holten, uns an der Spüle in der Küche die Zähne putzten, uns nacheinander zum Wasserhahn vorbeugten und den Mund ausspülten, als wären wir wieder Kinder. In den Sommerferien.
Ich wischte den Zahncremeschaum auf meinen Lippen mit der Hand ab, rieb mit dieser wiederum über das Hosenbein. Es war zwanzig vor elf. So früh war ich seit Jahren nicht mehr ins Bett gegangen. Aber es war ein langer Tag gewesen. Vor Erschöpfung war mein Körper wie taub, und vom vielen Weinen hatte ich Kopfschmerzen. Nun waren die Tränen jedoch weit weg. Vielleicht war ich immun geworden. Weil ich mich bereits an alles gewöhnt hatte.
Als wir oben waren, öffnete Yngve das Fenster, hakte es fest und schaltete die Wandlampe über dem Kopfende des Bettes ein. Ich folgte seinem Beispiel auf meiner Seite und löschte die Deckenlampe. Es roch muffig, was nicht an der Luft lag, sondern an den Möbeln und Teppichen, die seit zwei Jahren, vielleicht auch länger, unbenutzt eingestaubt waren.
Yngve setzte sich auf seine Seite des Doppelbetts und zog sich aus. Ich tat auf meiner Seite das Gleiche. Es war ein bisschen zu intim, im selben Bett zu schlafen, so etwas hatten wir seit unserer Kindheit nicht mehr getan. Aber wir hatten immerhin jeder eine eigene Decke.
»Hast du mal daran gedacht, dass Vater nicht mehr dazu gekommen ist, deinen Roman zu lesen?«, sagte Yngve und wandte sich mir zu.
»Nein«, sage ich. »An den Roman habe ich noch keinen Gedanken verschwendet.«
Yngve hatte das Manuskript bekommen, als es Anfang Juni fertig gewesen war. Sein erster Kommentar nach der Lektüre lautete, Vater werde mich verklagen. Das waren seine Worte. Ich stand in einer Telefonzelle auf dem Flughafen, wollte mit Tonje in der Türkei Urlaub machen, wusste nicht, ob er wütend sein oder mich unterstützen würde, hatte keine Ahnung, welchen Eindruck das, was ich geschrieben hatte, auf mir nahestehende Menschen machen mochte. »Ich weiß nicht, ob das Buch gut oder schlecht ist«, hatte er gesagt. »Aber Vater wird dich verklagen. Da bin ich mir sicher.«
»Aber es gibt in dem Buch einen Satz, der mehrfach wiederholt wird«, sagte ich jetzt. »›Mein Vater ist tot.‹ Erinnerst du dich?«
Yngve zog die Decke zur Seite, schwang die Beine aufs Bett und legte sich hin. Richtete sich halb auf und rückte das Kissen zurecht.
»Vage«, sagte er und legte sich wieder hin.
»Als Henrik aus dem Ort flieht, braucht er eine Entschuldigung, und das ist das Einzige, was
Weitere Kostenlose Bücher