Sterben: Roman (German Edition)
gewartet. Ich kannte alle Nuancen ihrer Stimme und nahm sie auf und nicht das, was sie sagte. Zunächst Wärme, Mitgefühl und Sehnsucht, wonach sie sich zusammenkauerte und klein machte, als wollte sie mir ganz nahe kommen. Meine Stimme war distanziert. Sie kam mir nahe, und das brauchte ich, aber ich kam ihr nicht nahe, das konnte ich nicht. Ich beschrieb kurz, was im Haus geschehen war, ging nicht in die Details, sagte nur, dass es furchtbar war und ich ständig weinen musste. Dann unterhielten wir uns ein bisschen darüber, was sie getan hatte, obwohl sie das anfangs nicht wollte, und anschließend sprachen wir kurz darüber, wann sie kommen sollte. Als wir aufgelegt hatten, ging ich in die verwaiste Küche und trank ein Glas Wasser. Großmutter saß wieder im Fernsehsessel, ich ging zu ihr.
»Weißt du, wo Yngve ist?«
»Nein«, sagte sie. »Ist er nicht in der Küche?«
»Nein«, erwiderte ich.
Uringeruch stach mir in die Nase.
Ich blieb stehen, ohne zu wissen, was ich tun sollte. Für Kot und Urin gab es eine einfache Erklärung. Er war so betrunken gewesen, dass er die Kontrolle über seine Körperfunktionen verloren hatte.
Aber wo war sie gewesen? Was hatte sie getan?
Ich hatte große Lust, zum Fernseher zu gehen und den Bildschirm einzutreten.
»Yngve und du, ihr trinkt doch nicht, oder?«, sagte sie plötzlich, aber ohne mich anzusehen.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Oder sagen wir, es kann schon mal vorkommen, aber wenn, dann nur ein bisschen. Nie viel.«
»Aber heute Abend nicht?«
»Nein, bist du verrückt!«, sagte ich. »Nein, das käme mir nie in den Sinn. Und Yngve auch nicht.«
»Was käme mir nie in den Sinn?«, sagte Yngve hinter mir. Ich drehte mich um. Er kam die zwei Stufen herauf, die das untere vom oberen Zimmer trennten.
»Großmutter fragt, ob wir trinken.«
»Das kommt schon mal vor«, erklärte Yngve. »Aber nicht oft. Weißt du, ich habe ja jetzt auch zwei kleine Kinder.«
»Du hast zwei ?«, sagte Großmutter.
Yngve lächelte. Ich lächelte auch.
»Ja«, antwortete er. »Ylva und Torje. Ylva hast du ja schon gesehen. Torje kommt dann zur Beerdigung mit.«
Der Anflug von Leben, der in Großmutters Gesicht aufgeflackert war, erstarb wieder. Ich begegnete Yngves Blick.
»Es war ein langer Tag«, sagte ich. »Sollen wir ins Bett gehen?«
»Ich gehe nur nochmal kurz auf die Veranda«, sagte er. »Kommst du mit?«
Ich nickte. Er verschwand.
»Bleibst du abends oft lange auf?«
»Was?«
»Wir überlegen, bald schlafen zu gehen«, sagte ich. »Bleibst du noch auf?«
»Nein. Oh nein. Ich gehe auch ins Bett.«
Sie sah zu mir auf.
»Schlaft ihr unten, in unserem alten Schlafzimmer? Es steht leer.«
Ich schüttelte den Kopf und hob entschuldigend die Augenbrauen.
»Wir dachten, wir schlafen oben«, sagte ich. »Auf dem Dachboden. Wir haben schon unsere Sachen ausgepackt.«
»Ja, das geht natürlich auch«, meinte sie.
»Kommst du?«, sagte Yngve, er stand mit einem Glas Bier in der Hand im unteren Zimmer.
Als ich auf die Veranda hinaustrat, saß er auf einem hölzernen Gartenstuhl an einem dazugehörigen Tisch.
»Wo hast du die denn aufgetrieben?«, sagte ich.
»Im Schuppen unter der Veranda«, antwortete er. »Ich meinte mich erinnern zu können, die Möbel da mal gesehen zu haben.«
Ich lehnte mich ans Geländer. Weit draußen funkelte die Dänemark-Fähre. Sie hielt Kurs aufs offene Meer. Die wenigen kleinen Boote, die ich sehen konnte, hatten alle ihre Laternen eingeschaltet.
»Wir müssen uns eine von diesen elektrischen Sensen besorgen«, sagte ich. »Oder wie die heißen. Mit einem normalen Rasenmäher kommen wir hier nicht weit.«
»Wir suchen am Montag im Branchenbuch nach einer Verleihfirma«, sagte er.
Sah mich an.
»Hast du mit Tonje gesprochen?«
Ich nickte.
»Tja, viele werden wir nicht sein«, sagte Yngve. »Wir zwei, Gunnar, Erling, Alf und Großmutter. Sechzehn, wenn man die Kinder mitzählt.«
»Tja, ein Staatsbegräbnis bekommt er nicht gerade.«
Yngve stellte das Glas ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Hoch über den Bäumen, vor dem grau verschleierten Himmel, flatterte eine Fledermaus.
»Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie wir sie gestalten sollen?«, sagte er.
»Die Beerdigung?«
»Ja.«
»Nein, nicht wirklich. Aber ich will auf keinen Fall eine von diesen humanistischen Beerdigungen. Soviel steht fest.«
»Genau. Also eine kirchliche.«
»Ja, eine andere Alternative gibt es doch nicht, oder?
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