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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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alten Auto. Das war zweifellos Tom. Ich blickte die Straße hinunter und hob die Hand zum Gruß, als sie in der Kurve auftauchten. Der Wagen bremste und blieb neben mir stehen. Tom kurbelte das Fenster herunter.
    »Hallo, Karl Ove«, sagte er.
    »Hallo«, sagte ich.
    Er grinste.
    »Man hat dir eine Standpauke gehalten?«, fragte ich.
    »Dieser verdammte Arsch«, warf Jan Vidar auf dem Beifahrersitz ein.
    »Halb so wild«, erklärte Tom. »Ihr wollt heute Abend ausgehen?«
    »Ja. Und du?«
    »Eine kleine Runde werde ich wohl drehen.«
    »Und sonst?«
    »Alles okay.« Er sah mich mit seinen freundlichen Augen an und grinste.
    »Eure Sachen liegen im Kofferraum.«
    »Ist er offen?«
    »Klar.«
    Ich ging nach hinten, hob den Kofferraumdeckel an und holte die beiden weißroten Plastiktüten heraus, die inmitten eines Durcheinanders aus Werkzeug, Werkzeugkästen und diesen Riemen mit Haken am Ende, mit denen man Dinge auf dem Dach befestigen kann, lagen.
    »Ich hab sie«, sagte ich. »Vielen Dank, Tom. Das werden wir dir nicht vergessen.«
    Er pfiff.
    »Bis nachher«, sagte ich zu Jan Vidar.
    Er nickte mir zu, und Tom kurbelte die Scheibe hoch und hob fröhlich die Hand zum Gruß an die Stirn, wie es seine Art war, legte den Gang ein und fuhr den Anstieg hinauf. Ich machte einen Satz über den Schneewall und lief zwischen die Bäume, folgte dem verschneiten Bachlauf ungefähr zwanzig Meter aufwärts und legte die Flaschen unter einem leicht wiedererkennbaren Birkenstamm ab, während ich das Auto auf dem Weg nach unten erneut vorbeifahren hörte.
    Ich stand am Waldsaum und wartete noch einige Minuten, damit mein Abstecher nicht verdächtig kurz ausfiel. Dann ging ich den Hügel hinauf zu unserem Grundstück zurück, wo Vater den Weg zum Haus breiter fräste. Er hatte weder eine Mütze noch Handschuhe an, ging in seiner alten Lammfelljacke hinter der Maschine her und hatte sich einen dicken Schal lose um den Hals geschlungen. Der aufgefräste Schnee, den der Wind nicht mitriss, fiel in Kaskaden einen Meter weiter auf den Acker. Ich nickte ihm im Vorbeigehen zu, und seine Augen streiften mich flüchtig, aber sein Gesicht blieb regungslos. Als ich in die Küche kam, nachdem ich im Flur Jacke und Schuhe ausgezogen hatte, saß dort Mutter und rauchte. Am Fenster brannte mit flackernder Flamme eine Kerze. Auf der Uhr am Herd war es halb vier.
    »Alles unter Kontrolle?«, sagte ich.
    »Ja klar«, antwortete sie. »Es wird sicher nett werden. Möchtest du was essen, bevor du gehst?«
    »Ich mache mir ein Brot«, sagte ich.
    Auf der Arbeitsplatte lag ein großes weißes Paket mit gelaugtem Stockfisch. Das Becken daneben war mit dunklen, ungewaschenen Kartoffeln gefüllt. Das Lämpchen der Kaffeemaschine in der Ecke leuchtete. Die Kanne war noch halb voll.
    »Aber ich denke, damit warte ich noch ein bisschen«, sagte ich. »Vor sieben bin ich ja nicht weg. Wann kommen sie eigentlich?«
    »Papa holt Oma und Opa ab, ich denke, er wird bald fahren. Gunnar kommt gegen sieben.«
    »Dann sehe ich sie noch«, meinte ich und ging ins Wohnzimmer, stellte mich ans Fenster und blickte auf das Tal hinaus, ging zum Couchtisch, nahm mir eine Orange, setzte mich auf die Couch und schälte sie. Die Lichter am Weihnachtsbaum brannten, die Flammen im Kamin flackerten, und auf dem gedeckten Tisch am anderen Ende des Zimmers funkelte das Licht der Lampen in den Kristallgläsern. Ich dachte an Yngve und fragte mich, wie er diese Dinge während seiner Gymnasialzeit in Angriff genommen hatte. Jetzt hatte er jedenfalls keine Probleme; er war mit Freunden in der Vindil-Hütte im Binnenland der Provinz Aust-Agder. Zu uns war er möglichst spät gekommen, an Heiligabend, und hatte sich wieder aus dem Staub gemacht, sobald ihm dies möglich erschien, am zweiten Weihnachtstag. Er hatte hier nie gewohnt. Im Sommer unseres Umzugs kam er in die dritte Klasse des Gymnasiums und wollte weiter dieselbe Schule besuchen, bei seinen Freunden bleiben. Vater war außer sich gewesen. Aber Yngve hatte nicht nachgegeben und einen Schülerkredit aufgenommen, weil Vater ihm jede finanzielle Unterstützung verweigerte, und ein Zimmer unweit unseres alten Hauses angemietet. An den wenigen Wochenenden, die er bei uns verbrachte, sprach Vater kaum mit ihm. Zwischen den beiden herrschte eisige Kälte. Im Jahr darauf ging Yngve zum Militär, und ich erinnere mich, dass er an einem Wochenende mit Alfhild, seiner damaligen Freundin, nach Hause kam. Es war das erste Mal, dass er dies

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