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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Gewinn allein in Pers bewunderndem Lachen über meinen Witz bestand, das ein paar Stunden später vergessen war. Die Familie in der Kurve vergaß jedoch nie. Der Vater war zu nett, um einzugreifen, aber die Mutter … Jedesmal, wenn sie mich sah, blitzten ihre Augen. Für mich waren sie bloß Leute, auf deren Kosten ich mich profilieren konnte. Wenn William in einer Hose mit Hochwasser in die Schule kam, hatte er etwas gründlich missverstanden, benutzte er ein Wort falsch, gab es keinen Grund, warum er sich das nicht anhören sollte. So war es doch, oder? Außerdem lag es doch ganz bei ihm, das Gelächter verstummen zu lassen oder zu überwinden. Ich selbst war nun wirklich nicht ohne Schwächen, sie waren offensichtlich und konnten von jedem ausgenutzt werden, und dass diese es nicht taten, weil ihr Einfühlungsvermögen nicht ausreichte, um sie sich vorzustellen, war doch nicht mein Problem? Die Bedingungen waren für alle gleich. In der Schule hing William mit der Clique herum, die im Regenunterstand rauchte, sie fuhren Mofas, seit sie dreizehn waren, gingen mit vierzehn einer nach dem anderen von der Schule ab, prügelten sich und tranken. Auch sie lachten über William, aber auf eine Art, mit der er sich abfand, denn bei ihnen gab es immer etwas, womit er sich messen konnte, es gab immer einen Weg, sich zu revanchieren. Wenn er mit uns zusammen war, also uns, die wir in den Häusern hier oben wohnten, lagen die Dinge anders, hier zählten Sarkasmen, Ironie und treffende Kommentare, was ihn oft genug in den Wahnsinn trieb, da sich dies alles außerhalb seiner Möglichkeiten befand. Aber er brauchte uns mehr, als wir ihn brauchten, und kam immer zurück. Für mich war es eine Frage der Freiheit. Als ich dorthin zog, kannte mich keiner, und obwohl ich im Grunde derselbe war wie vorher, bekam ich dadurch die Möglichkeit, Dinge zu tun, die ich so noch nie getan hatte. So gab es neben der Bushaltestelle beispielsweise einen altmodischen Lebensmittelladen, in dem die Waren noch über eine Theke verkauft wurden, die Besitzer waren zwei Schwestern um die siebzig. Sie waren nett und bewegten sich ausgesucht langsam. Wenn man sie um etwas bat, was weit oben in den Regalen stand, wandten sie einem ein oder zwei Minuten den Rücken zu, woraufhin man sich bloß das an Schokolade und Süßigkeiten in die Jacke stopfen brauchte, was man haben wollte. Ganz zu schweigen davon, wenn man sie um etwas bat, was sie erst aus dem Keller holen mussten. Auf Tromøya wäre ich niemals auf die Idee gekommen, so etwas zu tun, aber hier zögerte ich nicht, hier war ich nicht nur jemand, der alten Damen Schokolade und Süßigkeiten klaute, sondern darüber hinaus jemand, der die anderen Kinder dazu anstiftete, meinem Beispiel zu folgen. Sie waren ein Jahr jünger als ich, hatten den Ort praktisch nie verlassen, im Vergleich zu ihnen fühlte ich mich wie ein Mann von Welt. Erdbeeren hatten sie zum Beispiel alle schon einmal geklaut, aber ich führte ein paar zusätzliche Raffinessen ein und brachte sie dazu, Teller, Löffel, Milch und Zucker zum Erdbeerfeld mitzunehmen.
    In der Fabrikhalle sollten wir selbst die Zeit notieren, die wir für unsere Arbeit brauchten, und wie sich herausstellte, wäre man dort nie im Leben auf die Idee gekommen, dass dieses System ausgenutzt werden könnte und die Möglichkeit zum Pfuschen bestand. Aber wir fingen damit an. Die wichtigste Veränderung in meinem Verhalten hing allerdings mit Sprache zusammen, da ich die Möglichkeiten entdeckte, die mir die Worte boten, um mich den anderen gegenüber aufzuspielen. Ich beleidigte und schikanierte, manipulierte und ironisierte, und nie, nicht ein einziges Mal, kam ihnen der Gedanke, dass das Fundament dieser Macht so labil war, dass ein einziger gezielter Schlag sie aushebeln könnte. Ich hatte doch einen Sprachfehler! Ich konnte kein R sprechen! Nachdem ich sie bloßgestellt hatte, hätte es doch schon ausgereicht, mich nachzuahmen, und ich wäre am Boden zerstört gewesen. Aber sie taten es nie.
    Das heißt, Pers Bruder, der drei Jahre jünger war als ich, versuchte es einmal. Per und ich unterhielten uns in ihrem Stall, den sein Vater kurz zuvor neben der Garage gebaut hatte, um Platz für einen Norweger zu haben, den er seiner Tochter gekauft hatte, Per und Toms kleiner Schwester Marit. Wir waren den ganzen Abend unterwegs gewesen und schließlich hier gelandet, in dem gemütlichen und warmen Raum, in dem es nach Pferd und Heu roch, als Tom, der mich nicht

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