Sterben: Roman (German Edition)
vor ein paar Tagen zurückgefahren«, sagte ich. »Er wollte mit ein paar Freunden in eine Skihütte.«
»Ja, er ist ein richtiger Arendaler geworden«, kommentierte Gunnar.
Wir kamen am Gebetshaus vorbei, fuhren durch die Kurve an der Felsschlucht, in der nie die Sonne schien, überquerten die kleine Brücke. Die Scheibenwischer strichen übers Glas. Die Lüftung rauschte. Neben mir saß Harald und blinzelte.
»Bei wem ist die Fete?«, erkundigte sich Gunnar. »Bei einem aus deiner Klasse?«
»Ehrlich gesagt, bei einem Mädchen aus der Parallelklasse«, antwortete ich.
»Ja, wenn man aufs Gymnasium kommt, verändert sich alles«, sagte er.
»Du bist auch in die Kathedralschule gegangen, stimmt’s?«, fragte ich.
»Ja, klar«, sagte er und drehte den Kopf gerade so weit, um meinem Blick begegnen zu können, ehe er seine Aufmerksamkeit erneut der Straße zuwandte. Sein Gesicht war so lang und schmal wie das meines Vaters, aber das Blau seiner Augen war dunkler, ähnelte eher Großvaters als Großmutters Augenfarbe. Er hatte einen großen Hinterkopf wie Großvater und ich, während seine Lippen, die sinnlich waren und beinahe mehr über sein Inneres preisgaben als die Augen, die gleichen waren wie bei Vater und Yngve.
Wir kamen auf die Ebene hinaus, und das Licht der Scheinwerfer, das so lange gegen Bäume und Felsen, Häuserfassaden und Hänge gestoßen war, bekam endlich Raum.
»Am Ende der freien Fläche ist es«, sagte ich. »Du kannst an dem Geschäft da vorne halten.«
»Gut«, sagte Gunnar. Fuhr langsamer, hielt.
»Macht’s gut«, sagte ich. »Und einen guten Rutsch!«
»Dir auch einen guten Rutsch«, erwiderte Gunnar.
Ich schlug die Tür zu und ging zu Jan Vidars Haus, während das Auto wendete und den Weg zurückfuhr, den wir gekommen waren. Als es außer Sichtweite war, lief ich los. Jetzt waren wir wirklich spät dran. Ich sprang die Böschung zu ihrem Grundstück hinunter, sah, dass in seinem Zimmer Licht brannte, ging hin und klopfte an die Scheibe. Eine Sekunde später tauchte sein Gesicht auf und starrte mit schmalen Augen in die Dunkelheit hinaus. Ich deutete zur Tür. Als er mich endlich sah, nickte er, und ich ging zum Eingang an der anderen Seite des Hauses.
»Tut mir leid«, sagte ich, »aber das Bier ist noch oben bei Krageboen. Wir müssen sofort hochlaufen und es holen.«
»Was macht es denn da?«, sagte er. »Warum hast du es nicht mitgebracht?«
»Verdammt, mein Onkel ist vorbeigekommen, als ich auf dem Weg zu dir war. Und dann hat er darauf bestanden, mich zu euch zu fahren. Ich konnte doch schlecht Nein sagen, dann hätte er Verdacht geschöpft.«
»Oh nein«, sagte Jan Vidar. »Wir haben aber auch ein Pech.«
»Ja, verdammt«, sagte ich. »Aber jetzt komm schon. Wir müssen uns beeilen.«
Wenige Minuten später stiegen wir die Böschung zur Straße hinauf. Jan Vidar hatte die Mütze in die Stirn gezogen, sich den Schal um den Mund gewickelt, den Kragen der Jacke über die Wangen hochgeschlagen. Von seinem Gesicht waren nur noch die Augen zu sehen, allerdings auch die nur andeutungsweise, denn seine runde Lennon-Brille beschlug, wie ich sah, als er meinem Blick begegnete.
»Dann wollen wir mal«, meinte ich.
»Allerdings«, sagte er.
Trottend, mit schleppenden Beinen, um nicht alle Kraft auf einen Schlag zu vergeuden, liefen wir die Straße entlang. Auf der Ebene hatten wir Gegenwind. Schnee wirbelte um uns. Aus meinen fast zugekniffenen Augen liefen Tränen. Meine Füße wurden allmählich taub, sie fügten sich nicht mehr dem, was ich tat, sondern lagen steif und irgendwie klotzartig in den Winterschuhen.
Ein Auto fuhr vorbei und führte uns vor Augen, wie trostlos unser Tempo war, als es nur einen Augenblick später hinter der Kurve am Ende der Ebene verschwand.
»Sollen wir was rennen?«, rief Jan Vidar.
Ich nickte.
»Ich hoffe nur, die Tüten liegen noch da!«, sagte ich.
»Was hast du gesagt?«, entgegnete Jan Vidar.
»Die Tüten!«, sagte ich. »Hoffentlich hat sie keiner mitgenommen!«
»Scheiße, jetzt läuft doch kein Mensch draußen herum«, sagte Jan Vidar.
Wir lachten. Erreichten das Ende der Ebene und fingen wieder an zu laufen. Den Hang hinauf, wo der Kiesweg abging, der zu dem eigentümlich gutshofartigen Gebäude am Fluss führte, über die kleine Brücke, an der Schlucht vorbei, der verfallenen Autowerkstatt, dem Gebetshaus und den kleinen, weißen Häusern aus den fünfziger Jahren auf beiden Straßenseiten, bis wir endlich die Stelle
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