Sterben: Roman (German Edition)
merkwürdig, dass ein Mann, dessen Arbeit aus Zahlen bestand, sich auch in seiner Freizeit mit Zahlen beschäftigte und beispielsweise nicht im Garten arbeitete oder schreinerte oder andere Dinge tat, die den ganzen Körper beanspruchten. Aber nein, bei seiner Arbeit ging es um Zahlen, in seiner Freizeit um Tabellen. Das Einzige, wofür er sich meines Wissens darüber hinaus interessierte, war Politik. Wandte sich das Gespräch diesem Thema zu, lebte er unweigerlich auf, er hatte eindeutige Überzeugungen, aber noch eindeutiger war seine Lust an Debatten, und wenn ihm jemand widersprach, fand er das deshalb nur gut. Jedenfalls schauten seine Augen uneingeschränkt freundlich, wenn Mutter in seltenen Fällen ihre linksgerichteten Ansichten erläuterte, auch wenn seine Stimme lauter und schneidender wurde. Großmutter wiederum bat ihn bei solchen Gelegenheiten stets, über etwas anderes zu sprechen oder sich zu mäßigen. Sie war ihm gegenüber oft ironisch, konnte auch höhnisch werden, aber er revanchierte sich, und wenn wir dabei waren, zwinkerte sie uns immer zu, um uns zu verstehen zu geben, dass es nicht so ernst gemeint war. Sie lachte gern und liebte es, von den vielen komischen Dingen zu erzählen, die sie erlebt oder gehört hatte. Sie erinnerte sich an all die lustigen Sachen, die Yngve gesagt hatte, als er klein war, denn die beiden standen sich besonders nahe, da er als kleiner Junge ein halbes Jahr bei ihr gewohnt hatte und auch später oft dort gewesen war. Was Erling an seiner Schule in Trondheim alles erlebte, erzählte sie uns auch, aber am umfangreichsten war ihr Repertoire an Geschichten aus den dreißiger Jahren, in denen sie als Chauffeurin für eine ältere, wahrscheinlich senile Parlamentsabgeordnete gearbeitet hatte.
Inzwischen waren beide über siebzig, Großmutter ein paar Jahre älter als Großvater, erfreuten sich jedoch bester Gesundheit und reisten im Winter wie eh und je ins Ausland.
Es war eine Weile still. Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen könnte, und schaute zum Fenster hinaus, um die Stille etwas weniger lastend zu machen.
»Und wie läuft es in der Schule?«, sagte Großvater schließlich. »Hat Stray euch etwas Vernünftiges zu sagen?«
Stray war unser Französischlehrer. Er war ein kleiner, dicker, glatzköpfiger und energischer Mann um die siebzig und der Besitzer des Hauses neben dem Gebäude, in dem Großvater seine Kanzlei hatte. Wenn ich es richtig verstanden hatte, waren sie wegen irgendetwas zerstritten, möglicherweise ging es um die Grundstücksgrenze; ob es zu einem Rechtsstreit gekommen war, wusste ich nicht genau, und ebenso wenig, ob die Sache erledigt war, jedenfalls grüßten die beiden sich nicht, und zwar schon seit vielen Jahren nicht mehr.
»Weiß nicht«, antwortete ich. »Er nennt mich nur den Bengel in der Ecke.«
»So, so, tut er das«, meinte Großvater. »Und der alte Nygaard?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Dem geht es gut, denke ich. Macht sein Ding. Er ist ja noch vom alten Schlag. Woher kennst du ihn eigentlich?«
»Durch Alf«, erklärte Großvater.
»Ach ja, natürlich«, sagte ich.
Großvater stand auf und ging zum Fenster, verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte hinaus. Abgesehen von dem wenigen Licht, das durch die Fenster fiel, war es auf dieser Seite des Hauses stockfinster.
»Siehst du etwas, Vater?«, sagte Großmutter und zwinkerte mir zu.
»Ihr wohnt schön hier draußen«, meinte Großvater.
Im selben Moment kam Mutter mit vier Tassen in den Händen ins Wohnzimmer.
Er drehte sich zu ihr um.
»Ich habe gerade zu Karl Ove gesagt, dass ihr hier draußen schön wohnt!«
Mutter blieb stehen, als könnte sie im Gehen nichts sagen.
»Ja, wir sind sehr zufrieden mit dem Haus und dem Grundstück«, sagte sie, stand mit den Tassen in den Händen da und sah Großvater mit einem leisen Lächeln auf den Lippen an. Dabei hatte sie etwas … ja, beinahe Flammendes an sich. Es war nicht so, dass sie rot oder verlegen gewesen wäre, das war es nicht. Es ging eher darum, dass sie sich hinter nichts versteckte. Das tat sie nie. Wenn sie sprach, dann immer, um zu sagen, was sie meinte, niemals nur, um irgendwas zu sagen.
»Das Haus ist schon so alt«, sagte sie. »Die Jahre sitzen in den Wänden. Das kann sich natürlich so oder so auswirken. Aber man ist gern hier.«
Großvater nickte, schaute weiter in die Dunkelheit hinaus. Mutter ging zum Tisch und stellte die Tassen ab.
»Wo ist eigentlich unser Gastgeber
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