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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Zug, aber nach einem kurzen, bösen Blick verschwand er, als hätte er sich gesagt, dass er nicht mehr so war.
    Jedenfalls dachte ich das.
    »Na dann, Prost«, sagte Vater und erhob uns zugewandt sein Weinglas. Dann sah er Bodil an und ergänzte: »Auf Helene.«
    »Auf Helene«, sagte Bodil.
    Sie tranken und sahen sich dabei in die Augen.
    Wer zum Teufel war Helene?
    »Hast du nichts zum Anstoßen, Karl Ove?«, sagte Vater.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Nimm das Glas da«, sagte er. »Es ist sauber. Stimmt’s, Unni?«
    Sie nickte. Er hob die Flasche Weißwein über den Tisch und füllte es. Wir stießen nochmals an.
    »Wer ist Helene?«, sagte ich und sah die beiden an.
    »Helene war meine Schwester«, antwortete Bodil. »Sie ist tot.«
    »Helene war … ja, als ich ein Kind war, standen wir uns nahe. Wir waren unzertrennlich«, erklärte Vater. »Bis ins Teenageralter. Dann wurde sie krank.«
    Ich trank noch einen Schluck. Von der Rückseite des Hauses näherte sich das Paar von vorhin. Die üppige Frau in dem weißen Kleid und der Mann mit dem Schmerbauch. Zwei weitere Männer folgten ihnen, den einen erkannte ich aus der Küche wieder.
    »Hier sitzt ihr«, sagte der Mann mit dem Bauch. »Wir haben uns schon gefragt, wo ihr seid. Ich muss schon sagen, du kümmerst dich nicht besonders gut um deine Gäste.« Er legte die Hand auf Vaters Schulter. »Wenn wir schon einmal herkommen, wollen wir dich doch auch treffen.«
    »Das ist meine Schwester«, erklärte Bodil mir leise. »Elisabeth. Und ihr Mann Frank. Sie wohnen unten in Ryen, am Fluss. Er ist Immobilienmakler.«
    Waren all diese Menschen, die mein Vater kannte, die ganze Zeit über in unserer Nähe gewesen?
    Sie setzten sich an den Tisch, wo es sofort lebhafter zuging. Und was bei meiner Ankunft Gesichter ohne Bedeutung oder Inhalt gewesen waren, bei denen ich folglich bloß Alter und Typ wahrgenommen hatte, etwa so, als wären sie Tiere, ein Bestiarium der Vierzigjährigen mit allem, was an toten Augen, steifen Lippen, hängenden Brüsten und schwabbelnden Bäuchen, Falten und Wulsten dazugehörte, sah ich nun Individuen in ihnen, denn ich war mit ihnen verwandt, das Blut in ihren Adern war das gleiche Blut wie in meinen, und wer sie waren, spielte daraufhin plötzlich eine Rolle.
    »Wir haben über Helene gesprochen«, sagte Vater.
    »Helene, ja«, sagte der Mann namens Frank. »Ich bin ihr nie begegnet, aber ich habe viel von ihr gehört. Eine traurige Geschichte.«
    »Ich saß an ihrem Sterbebett«, erklärte Vater.
    Ich starrte ihn an. Was passierte da?
    »Sie war mir so wichtig. So wichtig.«
    »Sie war die Schönste, die du dir nur vorstellen kannst«, sagte Bodil erneut leise an mich gewandt.
    »Und dann starb sie«, sagte Vater. »Ohh.«
    Weinte er?
    Ja, er weinte. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und hielt die Hände vor der Brust gefaltet, während ihm Tränen über das Gesicht liefen.
    »Es war im Frühling. Als sie starb, war draußen Frühling. Alles blühte. Ohh. Ohh.«
    Frank senkte den Blick und drehte sein Glas in den Händen. Unni legte eine Hand auf Vaters Arm. Bodil sah die beiden an.
    »Du hast ihr ja so nahegestanden«, sagte sie. »Du warst das Liebste, was sie hatte.«
    »Oh. Oh«, sagte mein Vater, schloss die Augen und legte die Hände aufs Gesicht.
    Ein Windstoß fegte über den Hof. Die herabhängenden Zipfel der Tischdecke flatterten hoch. Eine Serviette wurde vom Tisch gerissen. Die Blätter über uns rauschten. Ich hob mein Glas und trank, schauderte, als der säuerliche Geschmack meinen Schlund füllte, und erkannte das klare, reine Gefühl, das auftauchte, wenn sich der Rausch ankündigte, aber noch nicht da war, erkannte die unweigerlich folgende Lust, ihn zu suchen.

TEIL ZWEI

NACHDEM ICH EINIGE MONATE in einem Souterrainzimmer in Åkeshov, einer von Stockholms zahlreichen Trabantenstädten, an dem Buch geschrieben hatte, das hoffentlich mein zweiter Roman werden würde, mit der S-Bahn nur wenige Meter vor meinem Fenster, so dass ich jeden Nachmittag, nach Einbruch der Dunkelheit, die Wagen als Schnur leuchtender Zimmer durch den Wald kommen sah, ergatterte ich Ende 2003 ein Arbeitszimmer in der Stockholmer Innenstadt. Es gehörte einem von Lindas Freunden und war perfekt, eigentlich eine Einzimmerwohnung mit einer kleinen Küche, einer kleinen Dusche und einer Bettcouch neben dem Schreibtisch und den Bücherregalen. Zwischen den Jahren brachte ich meine Sachen dorthin, will sagen einen Stapel Bücher und den

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