Sterben: Roman (German Edition)
Computer, und nahm am ersten Werktag des neuen Jahres die Arbeit wieder auf. Mein Roman war im Grunde fertig, es war ein seltsames Buch von einhundertdreißig Seiten, eine kleine Erzählung über einen Vater und seine beiden Söhne beim Krebsfischen in einer Sommernacht, die in einen langen Essay über Engel mündete, der wiederum in eine Erzählung über einen der zwei mittlerweile erwachsenen Söhne und sein Leben während einiger Tage auf einer Insel im Meer überging, auf der er alleine lebte und schrieb und sich selbst verletzte.
Der Verlag hatte zugesagt, das Buch zu veröffentlichen, und ich war versucht, auf dieses Angebot einzugehen, aber auch sehr unsicher, vor allem, nachdem ich Thure Erik gebeten hatte, es zu lesen, und er mich spätabends, in eigentümlicher Stimmung und mit seltsamer Wortwahl anrief, so als hätte er etwas getrunken, um sagen zu können, was er zu sagen hatte, eine simple Botschaft auszusprechen, das geht nicht, das ist kein Roman. Du musst erzählen, Karl Ove!, erklärte er mehrfach. Du musst doch erzählen! Ich wusste, dass er Recht hatte, und genau damit wollte ich an diesem ersten Arbeitstag 2004 beginnen, als ich an meinem neuen Schreibtisch saß und den leeren Bildschirm anstarrte. Nach einem halbstündigen Versuch lehnte ich mich zurück und ließ den Blick zu dem Plakat hinter dem Schreibtisch schweifen, das von einer Peter-Greenaway-Ausstellung stammte, die ich vor langer Zeit in meinem früheren Leben mit Tonje in Barcelona besucht hatte, es bestand aus vier Bildern, eines zeigte etwas, was ich lange für einen pinkelnden Cherub hielt, das zweite den Flügel eines Vogels, das dritte ein Flugzeug aus den zwanziger Jahren, das vierte die Hand einer Leiche. Dann sah ich aus dem Fenster. Der Himmel über dem Krankenhaus auf der anderen Straßenseite war klar und blau. Die niedrig stehende Sonne blitzte in Fensterscheiben, Schildern, Geländern, Motorhauben. Der Frostnebel, der von den Menschen aufstieg, die auf dem Bürgersteig vorbeigingen, ließ es so aussehen, als würden sie brennen. Alle waren dick vermummt. Mützen, Schals, Handschuhe, dicke Jacken. Schnelle Bewegungen, verschlossene Gesichter. Ich ließ den Blick über den Fußboden schweifen. Es war ein relativ neuer Parkettboden, dessen rotbrauner Ton keinerlei Verbindung zu dem Jahrhundertwendestil der übrigen Wohnung hatte. Plötzlich sah ich, dass die Astlöcher und Jahresringe etwa zwei Meter von dem Stuhl entfernt, auf dem ich saß, ein Bild von Christus mit Dornenkrone ergaben.
Es löste bei mir keine Reaktion aus, ich registrierte es bloß, denn Bilder wie dieses, erschaffen von Unregelmäßigkeiten im Fußboden und an den Wänden, in Türen und Leisten, gibt es in allen Gebäuden – ein Stockfleck an der Decke sieht aus wie ein rennender Hund, die abgewetzte Farbschicht auf einer Stufe wie ein verschneites Tal mit einer Gebirgskette in der Ferne. Über der sich die Wolken näher wälzen – dennoch schien der Anblick in mir etwas in Gang gesetzt zu haben, denn als ich zehn Minuten später aufstand, zum Wasserkocher ging und ihn füllte, fiel mir auf einmal etwas ein, was an einem Abend vor langer Zeit geschehen war, weit zurück in meiner Kindheit, als ich ein ähnliches Bild auf dem Wasser gesehen hatte, das in einer Reportage über einen verschwundenen Fischkutter gezeigt wurde. In den Sekunden, die es dauerte, den Wasserkocher zu füllen, sah ich unser Wohnzimmer vor mir, den teakverkleideten Fernseher, das Schimmern von Schneeflecken mancherorts auf dem dunkler werdenden Hügel vor dem Fenster, das Meer auf dem Bildschirm, das Gesicht, das sich plötzlich darin zeigte. Mit den Bildern stellte sich auch die Stimmung von damals ein, des Frühlings, der Siedlung, der siebziger Jahre, des Lebens in unserer Familie, wie es sich damals gestaltete. Und mit der Stimmung eine beinahe unbändige Sehnsucht.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich zuckte zusammen. Diese Nummer hatte doch keiner?
Der Apparat klingelte fünf Mal, dann gab er auf. Das Rauschen des Wasserkochers wurde lauter, und ich dachte wie so oft, dass es sich anhörte, als käme jemand näher.
Ich schraubte den Deckel der Kaffeedose ab, gab zwei Teelöffel Pulver in die Tasse und goss Wasser darauf, das schwarz und dampfend von den Wänden der Tasse aufstieg, zog mich anschließend an. Bevor ich hinausging, stellte ich mich so, dass ich das Gesicht im Holzboden wieder sehen konnte. Und es war wirklich Christus. Das Gesicht halb abgewandt,
Weitere Kostenlose Bücher