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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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wie vor Schmerz, der Blick gesenkt, die Dornenkrone auf dem Kopf.
    Bemerkenswert war nicht, dass sich dieses Gesicht hier befand, ebenso wenig, dass ich Mitte der siebziger Jahre einmal ein Gesicht im Meer gesehen hatte, bemerkenswert war vielmehr, dass ich es vergessen hatte und es mir nun unvermittelt wieder eingefallen war. Abgesehen von einzelnen Episoden, über die Yngve und ich so oft gesprochen hatten, dass sie nahezu biblische Proportionen angenommen hatten, war mir von meiner Kindheit kaum etwas in Erinnerung geblieben. Das hieß, ich erinnerte mich an praktisch nichts, was geschehen war – an die Räume, in denen sich alles abgespielt hatte, dagegen schon. Ich entsann mich aller Orte, an denen ich gewesen, aller Zimmer, in denen ich mich aufgehalten hatte. Nur nicht an das, was sich in ihnen ereignet hatte.
    Ich ging mit der Tasse in der Hand auf die Straße hinaus. Ein leichtes Unbehagen regte sich in mir, denn die Tasse gehörte in die Wohnung, nicht ins Freie; außer Haus bekam sie etwas Nacktes und Entblößtes, und als ich die Straße überquerte, beschloss ich, am nächsten Morgen im 7-Eleven-Laden einen Kaffee zu kaufen und fortan den Pappbecher für draußen zu benutzen. Vor dem Krankenhaus standen zwei Bänke, und ich ging hinüber, setzte mich auf die vereisten Latten, zündete mir eine Zigarette an und schaute die Straße hinunter. Der Kaffee war schon nicht mehr ganz heiß. Das Thermometer vor dem Küchenfenster daheim hatte an diesem Morgen minus zwanzig Grad angezeigt, und obwohl die Sonne schien, konnte es jetzt nicht viel wärmer sein. Minus fünfzehn vielleicht.
    Ich zog das Handy aus der Tasche, um zu sehen, ob jemand angerufen hatte. Oder eigentlich nicht irgendjemand: Wir erwarteten in einer Woche ein Kind, weshalb ich jederzeit damit rechnete, dass Linda anrufen und Bescheid geben könnte, dass es losging.
    An der Kreuzung am oberen Ende des sanften Anstiegs begannen die Ampeln zu ticken. Kurz darauf fuhren auf der unterhalb gelegenen Straße keine Autos mehr. Aus dem Hauseingang nebenan traten zwei Frauen mittleren Alters und zündeten sich Zigaretten an. In ihrer weißen Krankenhauskleidung pressten sie die Arme an den Körper und trippelten unablässig auf der Stelle, um nicht zu frieren. Ich überlegte, dass sie einer seltsamen Entenart ähnelten. Dann hörte das Ticken oben auf, und wie eine Meute jagender Hunde fuhren im nächsten Moment die Autos aus dem Schatten an der Hügelkuppe und auf die sonnenbeschienene Fahrbahn darunter. Die Spikes kreischten auf dem Asphalt. Ich legte das Handy zurück und schloss meine Hände um die Tasse. Der Dampf stieg langsam hoch und vermischte sich mit dem aus meinem Mund. Auf dem Schulhof, der von meinem Arbeitszimmer aus zwanzig Meter die Straße hinauf zwischen zwei Häuserblocks eingeklemmt lag, verstummten auf einmal die Rufe der Kinder, die mir erst dadurch bewusst wurden. Es hatte zur nächsten Stunde geklingelt. Die Geräusche an diesem Ort waren für mich, genau wie der Rhythmus, in dem sie auftauchten, neu und unbekannt, würden mir aber schon bald so vertraut sein, dass sie wieder verschwanden. Man weiß zu wenig, und es existiert nicht. Man weiß zu viel, und es existiert nicht. Schreiben heißt, das Existierende aus den Schatten dessen zu ziehen, was wir wissen. Darum geht es beim Schreiben. Nicht, was dort geschieht, nicht, welche Dinge sich dort ereignen, sondern es geht um das Dort an sich. Dort ist der Ort und das Ziel des Schreibens. Aber wie kommt man dorthin?
    Das war meine Frage, als ich in diesem Stadtteil Stockholms saß und Kaffee trank, während sich meine Muskeln vor Kälte zusammenzogen und der Rauch der Zigarette sich in dem riesigen Luftraum über mir auflöste.
    Das Stimmengewirr vom Schulhof ertönte in festgelegten Intervallen, die einen von vielen Rhythmen bildeten, von denen die nähere Umgebung tagtäglich durchzogen wurde, von den zahlreicher werdenden Autos in den morgendlichen Straßen, bis der Verkehr auf der anderen Seite am späten Nachmittag allmählich wieder nachließ. Die Handwerker, die sich gegen halb sieben in diversen Cafés und Konditoreien mit Arbeitsschuhen und kräftigen, staubigen Händen, Zollstöcken in den Hosentaschen und ihren ständig klingelnden Handys zum Frühstück versammelten. Die schwieriger einzuordnenden Männer und Frauen, von denen die Straßen in den nächsten Stunden bevölkert wurden, deren weiches, gut gekleidetes Äußeres nur verriet, dass sie ihre Tage in irgendeinem

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