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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Büro verbrachten und ebenso gut Rechtsanwälte wie Fernsehjournalisten oder Architekten, ebenso gut Texter in Werbeagenturen wie Sachbearbeiter in Versicherungen sein mochten. Die Krankenschwestern und Pfleger, die von den Bussen vor dem Krankenhaus abgesetzt wurden, meist mittleren Alters, meist Frauen, gelegentlich aber auch ein junger Mann, in Pulks, die bis acht Uhr immer größer und danach immer kleiner wurden, bis am Ende nur der eine oder andere Rentner mit Einkaufswagen auf den Bürgersteig hinaustrat, in den stillen Vormittagsstunden, wenn einzelne Mütter und Väter sich mit ihren Kinderwagen zeigten und der Verkehr auf der Straße von Transportern, Lastwagen, Pick-ups, Bussen und Taxis dominiert wurde.
    In dieser Zeit, wenn sich die Sonnenstrahlen in den Fenstern auf der anderen Straßenseite spiegelten und nie oder jedenfalls nur sehr selten Schritte im Treppenhaus ertönten, kamen gelegentlich Gruppen von Kindergartenkindern vorbei, die kaum größer waren als Schafe, allesamt in ähnlichen reflektierenden Westen, oft ernst, wie verzaubert vom abenteuerlichen Charakter ihres Unterfangens, während die Ernsthaftigkeit der Angestellten, die sie hirtenhaft überragten, eher zur Langeweile zu tendieren schien. Um diese Uhrzeit bot sich auch allen Arbeiten, die in der näheren Umgebung verrichtet wurden, genügend Raum, um ins Bewusstsein zu dringen, ob es nun Arbeiter des Gartenbauamts waren, die Blätter von einem Platz bliesen oder einen Baum beschnitten, Straßenarbeiter, die den Asphalt von einem Straßenabschnitt abschliffen, oder ein Hauseigentümer, der irgendwo in der Nähe ein Mietshaus sanieren ließ. Dann bewegte sich plötzlich eine Welle von Angestellten und Geschäftsleuten durch die Straßen und füllte alle Restaurants bis auf den letzten Platz: Mittagspause. Wenn sich die Welle ebenso plötzlich wieder zurückzog, hinterließ sie eine Leere, die wie erwartet der des Vormittags ähnelte, aber dennoch ihre ganz eigene Ausprägung hatte, denn wenn sich Muster wiederholten, geschah dies in umgekehrter Reihenfolge: die Schulkinder, die nun vereinzelt vor meinem Fenster vorüberzogen, waren auf dem Heimweg und hatten ausnahmslos etwas Aufgekratztes und Ausgelassenes an sich, während sie morgens, auf dem Weg zur Schule, noch schlaftrunken und stumm vorbeigegangen waren, sowie mit jener angeborenen Behutsamkeit, mit der man dem begegnet, was noch nicht begonnen hat. Die Sonne beschien nun die Wand gleich vor dem Fenster, hinter der Wohnungstür ertönten im Treppenhaus immer häufiger stampfende Schritte, und an der Bushaltestelle vor dem Haupteingang des Krankenhauses war die Menge der Wartenden jedes Mal, wenn ich hinschaute, größer geworden. Auf der Straße sah man mehr Privatwagen, auf den Bürgersteigen, die zu den Hochhäusern hinaufführten, erhöhte sich die Zahl der Fußgänger. Die zahlreicher werdenden Aktivitäten kulminierten gegen fünf Uhr, danach herrschte Stille in der Gegend, bis gegen zehn das Nachtleben begann, und nochmals, wenn es gegen drei Uhr endete. Gegen sechs nahmen die Busse wieder den Verkehr auf, aus allen Hauseingängen und Treppenhäusern tauchten Menschen auf, ein neuer Tag begann.
    Derart streng reguliert und eingeteilt spielte sich hier das Leben ab, dass es sich ebenso gut geometrisch wie biologisch verstehen ließ. Dass es mit etwas Brodelndem, Wildem und Chaotischem verwandt sein sollte, wie man es bei anderen Arten beobachten konnte, etwa bei den überbordenden Anhäufungen von Kaulquappen oder Fischbrut oder Insekteneiern, bei denen das Leben aus einem unerschöpflichen Quell zu kriechen schien, war kaum zu glauben. Aber das war es. Das Chaotische und Unvorhersehbare bedingt gleichzeitig die Entstehung des Lebens und seinen Verfall, das eine ist undenkbar ohne das andere, und obwohl fast alle unsere Bemühungen darauf abzielen, es fernzuhalten, benötigt es nichts als einen kurzen Moment der Resignation, um uns in seinem Licht und nicht wie jetzt im Schatten leben zu lassen. Das Chaotische ist eine Art Schwerkraft, und der Rhythmus, der sich in der Geschichte aus dem Wachsen und Kollabieren von Zivilisationen erahnen lässt, wird möglicherweise von ihm erzeugt. Es fällt auf, dass die Extreme einander zumindest in einer Hinsicht ähneln, denn sowohl im überbordend Chaotischen als auch im streng Regulierten und Eingeteilten ist der Lebende nichts, das Leben alles. So wenig es das Herz interessiert, für welches Leben es schlägt, so wenig interessiert

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