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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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es die Stadt, wer ihre verschiedenen Funktionen erfüllt. Wenn alle, die an diesem Tag durch die Stadt wandeln, tot sind, sagen wir in hundertfünfzig Jahren, wird der Widerhall ihres Tuns und Lassens diese in ihren Mustern weiter durchziehen. Neu werden allein die Gesichter der Menschen sein, die sie ausfüllen, allerdings nicht sonderlich neu, denn sie werden uns ähneln.
    Ich warf die Zigarettenkippe auf die Erde und trank den letzten, schon kalten Schluck Kaffee.
    Ich sah das Leben, ich dachte an den Tod.
    Ich stand auf, rieb meine Hände ein paarmal an den Schenkeln und ging zur Ampel hinunter. Die vorbeifahrenden Autos hinterließen Schwänze aus aufwirbelndem Schnee. Ein mächtiger Sattelschlepper fuhr mit klirrenden Schneeketten abwärts, bremste ruckartig und schaffte es mit Mühe und Not, vor dem Fußgängerüberweg anzuhalten, als die Ampel auf Rot umschlug. In mir regte sich immer ansatzweise ein schlechtes Gewissen, wenn Fahrzeuge wegen mir stoppen mussten, es entstand eine Art Ungleichgewicht, und ich hatte das Gefühl, ihnen etwas zu schulden. Je größer das Verkehrsmittel, desto größer die Schuld. Deshalb versuchte ich im Vorbeigehen Blickkontakt zum Fahrer aufzunehmen, weil ich ihm kurz zunicken und so das Gleichgewicht wiederherstellen wollte. Seine Augen folgten jedoch seiner Hand, die er gehoben hatte, um in der Fahrerkabine etwas herunterzunehmen – möglicherweise eine Karte, denn es war ein polnischer Sattelschlepper –, so dass er mich nicht wahrnahm, was gut war, denn dann hatte ihn das Abbremsen offenbar nicht nennenswert gestört.
    Ich blieb im Hauseingang stehen, tippte den Code ein, öffnete die Tür und zog den Schlüssel heraus, während ich die wenigen Treppenstufen ins Erdgeschoss hinaufstieg, wo mein Arbeitszimmer lag. Die Maschinerie des Aufzugs brummte, so dass ich möglichst schnell aufschloss, mich hineinschob und die Tür hinter mir zuzog.
    Die plötzliche Wärme ließ die Haut in meinem Gesicht und an den Händen kribbeln. Ich setzte Wasser für eine weitere Tasse Kaffee auf, und während ich darauf wartete, dass es kochte, überflog ich, was ich bisher geschrieben hatte. Der Staub, der in den breiten, schräg angewinkelten Lichtbahnen schwebte, folgte jeder einzelnen kleinen Luftströmung. Der Nachbar in der hinteren Wohnung hatte begonnen, Klavier zu spielen. Der Wasserkocher säuselte. Was ich geschrieben hatte, war nicht gut. Es war nicht schlecht, aber es war auch nicht gut. Ich ging zum Schrank, holte mir die Kaffeedose, gab zwei Löffel Pulver in die Tasse und goss Wasser dazu, das schwarz und dampfend zwischen den Wänden der Tasse aufstieg.
    Das Telefon klingelte.
    Ich setzte die Tasse auf dem Schreibtisch ab und ließ es zwei Mal klingeln, ehe ich an den Apparat ging.
    »Hallo?«, sagte ich.
    »Hallo, ich bin’s.«
    »Hi.«
    »Ich wollte mal hören, wie es so läuft? Gefällt es dir da?«
    Sie klang fröhlich.
    »Keine Ahnung. Du weißt doch, dass ich erst ein paar Stunden hier bin«, sagte ich.
    Pause.
    »Kommst du bald nach Hause?«
    »Du brauchst mich nicht drängeln«, antwortete ich. »Ich komme, wann ich komme.«
    Sie blieb stumm.
    »Soll ich noch was mitbringen?«, sagte ich nach einer Weile.
    »Nein, ich war schon einkaufen.«
    »Okay, dann bis später.«
    »Ja. Tschüss. Oder warte mal. Kakao.«
    »Kakao«, sagte ich. »Sonst noch was?«
    »Nein, das war alles.«
    »Okay. Tschüss.«
    »Tschüss.«
    Nachdem ich aufgelegt hatte, blieb ich lange auf dem Stuhl sitzen, versunken in etwas, was keine Gedanken, aber auch keine Gefühle waren, sondern eher eine Art Stimmung, so wie ein leeres Zimmer eine Stimmung besitzen kann. Als ich gedankenverloren die Tasse an den Mund hob und einen Schluck trank, war der Kaffee lauwarm. Ich stupste die Maus an, um den Bildschirmschoner verschwinden zu lassen und nachzusehen, wie viel Uhr es war. Sechs vor drei. Dann las ich mir den Text auf dem Bildschirm noch einmal durch, schnitt ihn aus und fügte ihn auf der Entwurfseite wieder ein. Fünf Jahre hatte ich an einem Roman gearbeitet, da durfte das, was am Ende herauskam, nicht lau sein. Und diese Zeilen strahlten zu wenig aus. Gleichzeitig lag die Lösung in dem bereits existierenden Text, das wusste ich, er barg etwas in sich, dem ich nachspüren wollte. Ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich wollte, in ihm vorhanden war, aber in zu komprimierter Form. Besonders wichtig war die kleine Idee, aus der sich der Text entwickelt hatte, dass die Handlung um das Jahr 1880

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