Sterben War Gestern
können wir keinen aufnehmen.“
„Das heißt, Ihre Patienten fühlen sich in der Klinik wohl?“
„Ich würde sagen, den allermeisten geht es nach den ersten drei Wochen entschieden besser als vorher. Viele von ihnen können nach extremem Stress, einem Trauma, einem Trauerfall in der Familie oder langen Krankheiten zum ersten Mal wieder aufatmen. Sie sind raus aus ihrer gewohnten Umgebung, erleben sich anders, entwickeln wieder so etwas wie Selbstbewusstsein und schöpfen Lebensmut.“
„Angela Esser auch?“
Sofort musste Agathe Simonis an den schrecklichen Anblick denken, der sich ihr in der Brandnacht geboten hatte, und sie musste sich zusammenreißen. Sie hatte die Münchnerin wegen ihrer liebenswerten Art gemocht. Die Frau war zurückhaltend gewesen, beinahe schüchtern.
„Als sie ankam, machte sie einen sehr in sich gekehrten Eindruck. Wissen Sie, die Sorte Patient, die am liebsten gar nicht gesehen werden will. Die meisten empfinden das am Anfang ja als schwierig. Sie gewöhnen sich erst langsam daran, dass man hier unter Dauerbeobachtung steht, fast immer unter Menschen ist und sich kaum zurückziehen kann. Ich glaube, Frau Esser war eher ängstlich, was fremde Menschen anbelangt. Aber das hat sich dann schnell gelegt. Wir setzen die Leute beim Essen ja nicht wahllos zusammen, sondern denken uns etwas dabei. Und ihre Tischnachbarn taten ihr gut. Besonders mit einer jungen Frau aus Rostock hat sie sich sehr gut verstanden. Sie haben oft zwischen den Behandlungsterminen zusammen gesessen.“
„Wie heißt die junge Frau?“
„Weyer. Sie ist gestern entlassen worden.“
„Dann brauche ich ihre Adresse.“
„Sofort?“
„Nein, ich habe vorher noch ein paar Fragen.“ Die Oberkommissarin sah kurz auf ihr Notepad. „Ist Ihnen irgendetwas an Frau Esser aufgefallen?“
„Aber das hat mich doch schon ihr Kollege gefragt.“
„Ich weiß. Aber manchmal fällt einem ja erst nach längerem Nachdenken etwas auf. Zum Beispiel: Hat sie sich verändert, während sie hier war?“
Die Krankenschwester lächelte vielsagend. „Aber deshalb kommen doch alle her. Um sich zu verändern. Und die meisten tun es auch. Wenn sie anfangen, ihre alten Geschichten aufzuarbeiten, frühkindliche Erinnerungen hochkommen, wenn verdrängte Gefühle auftauchen, dann werden viele erst mal unsicher und komisch. Und manche auch aggressiv. Auch bei Frau Esser schien ein neuer Teil ihrer Persönlichkeit durchzubrechen: Am Anfang war sie sehr schüchtern und zuvorkommend, nach drei Wochen beschwerte sie sich über ihre Tabletten, beklagte sich über das Essen, eine Weile war sie ziemlich auf dem Anti-Trip.“ Agathe Simonis faltete die Hände und legt sie auf der Tischplatte ab. „Aber wir werten so etwas positiv. Es ist der Anfang von Willensstärke und Interesse an den eigenen Bedürfnissen.“
„Ist das oft so extrem?“
„Die Phase haben fast alle. Die einen kürzer, die anderen länger. Danach kommt dann meistens die Auseinandersetzung mit sich selbst. Unser Professor Welp sagt immer, die Patienten müssten erst einmal richtig gegen sich und die Welt in den Krieg ziehen, um Frieden finden zu können. Bei Frau Esser traf das wohl zu. Obwohl sie mir am Ende wieder fast zu friedlich war. Man hätte meinen können, sie nimmt etwas.“
„Was denn?“
„Einige unsere Patienten bekommen Psychopharmaka gegen Depressionen. Entweder bringen sie die Medikation schon mit und wir erhöhen sie oder stellen um. Aber damit sind unsere behandelnden Ärzte eher zurückhaltend. Wir setzen lieber auf andere Therapiemethoden. Und harte Medikamente ab.“
„Ist Schlafentzug so eine Methode?“
„Zum Beispiel. Heute bereitet sich gerade eine Gruppe darauf vor. Wir legen das auf die Nacht von Sonntag auf Montag, damit es den allgemeinen Ablauf nicht stört. Ich treffe mich mit den Teilnehmern morgen. Wenn es Sie interessiert, kann ich fragen, ob Sie dabei sein können?“
„Ein andermal gern. Hat Frau Esser das auch gemacht?“
„Frau Esser hatte das volle Programm, ja.“
„Sagen Sie, ist zufällig einer der Ärzte oder Therapeuten im Haus, die Frau Esser behandelt haben?“
„Da muss ich nachschauen.“
„Dann machen Sie das doch bitte und sagen mir Bescheid, wenn Sie mir die Adresse der Mitpatientin geben, ja?“
„Bringe ich Ihnen gleich.“
Als die Oberschwester Richtung Foyer verschwand, riskierte Sylvia Eberstätter einen Blick zu ihrem Kollegen, der am anderen Ende des Raumes saß. Alle Patienten hatten einen
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