Sterbliche Hüllen: Thriller (German Edition)
diese genau mit einer Handlupe. Frank stand auf und stützte sich auf den Schreibtisch. Ihre Stirnhaare berührten sich ganz leicht. Diane hob etwas ihren Kopf und schaute ihm direkt in die Augen, die den ihren so nahe waren, dass sie meinte, seine Wimpern zu spüren.
»Insektenreste«, sagte sie dann.
»Insektenreste? Ist das wichtig?«
»Das bringt uns tatsächlich weiter. Es zeigt uns, dass der Knochen bei warmem Wetter, wenn diese Tierchen aktiv sind, offen auf dem Boden herumlag, sodass sie ihn als Wohnsitz wählen konnten.«
»Dieser Mensch ist also in der warmen Jahreszeit gestorben?«
»Vielleicht.«
»Wie lange ist das her? Kannst du das auch feststellen?«
Diane rieb mit ihrem Finger an dem Knochenschaft entlang. Sie war erleichtert, dass er nicht von der Adoptivtochter von Franks Freund stammte. »Ich würde mal sagen, dieser Knochen hat schon ein paar Jahre kein Fleisch mehr gesehen. Seit wann werden das Mädchen und ihr Freund vermisst?«
»Ein paar Monate.«
»Weiß jemand, wo sich ihr Freund aufhält?«
Frank zuckte die Schultern.
»Kannst du die beiden rauen Stellen hier und hier am Knochen erkennen?« Diane berührte zwei ganz bestimmte Knochenstellen.
»Ja.«
»Hier waren die Hals- und die Schultermuskeln angewachsen.«
»Das wäre also hier …« Frank strich mit seinen Fingern an Dianes Hals bis zu ihrem Schlüsselbein hinab.
»Ja, ungefähr.«
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte er.
»Die Größe und Beschaffenheit der Knochenansätze lassen mich vermuten, dass er ein ziemlich starker junger Bursche war.«
»Junger Bursche?«
Sie zeigte auf das proximale, näher am Körper liegende Ende des Knochens. »Die Epiphysenfuge hat sich gerade erst zu schließen begonnen, was auf ein Alter zwischen siebzehn und dreißig hindeutet.«
Frank richtete sich auf. »Das bedeutet also, dass sie an dem Platz, an dem sie ihre vermisste Teenager-Tochter vermuteten, tatsächlich die Überreste eines wahrscheinlich männlichen Teenagers fanden, der mit einer solchen Wucht erschlagen wurde, dass ihm dabei sein Schlüsselbein brach.«
»Genau.«
Frank runzelte die Stirn. »Das gefällt mir aber gar nicht.«
»Das glaube ich dir gern.«
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es purer Zufall war, dass sie den Knochen dieses Jungen an einer Stelle fanden, wo sie nach einem vermissten Mädchen suchten?«, fragte er dann.
»Die geht wohl gegen null.«
Diane steckte die Insektenteile in einen anderen Umschlag, schaute nach, ob im ursprünglichen Plastikbeutel weitere kleinteilige Rückstände zu finden waren, und gab dann alles an Frank zurück. »Es sieht so aus, als ob du da ein ernstes Problem hättest.«
Diane musste gegen den Schlaf ankämpfen, als sie die Stufen zu dem umgebauten neoklassizistischen Haus hinaufstieg, in dem sich ihr Apartment befand. Ihr schwarzer Schatten, den das schwache Verandalicht verursachte, spiegelte sich in der gläsernen Eingangstür wider. Sie schaute auf die Uhr – es war bereits 2 Uhr 10 morgens. Sie zählte nach: Es blieben ihr höchstens vier Stunden Schlaf. Sie schaute zum Himmel empor. Dunkle Wolken, hinter denen immer wieder ein heller Vollmond erschien.
»Kein Regen«, befahl sie dem Himmel. »Ich möchte es morgen nicht auch noch mit Regen zu tun haben.«
Ihre Finger, die von der Arbeit an den Ausstellungsstücken ganz schwach geworden waren, schmerzten, als sie den Haustürschlüssel im Schloss umdrehte. Als sie in den ersten Stock emporstieg, verspürte sie ein starkes Brennen in ihren Rückenmuskeln. Ihre Beine waren durch das ganztägige Bücken und Heben völlig verkrampft. Erst nach einigen vergeblichen Bemühungen gelang es ihr, die Tür zu ihrem dunklen Apartment aufzuschließen. Sie nahm sich wieder einmal vor, immer ein Licht brennen zu lassen.
Sie war todmüde. Am Ende dieses langen Tages hatte sie es auch noch geschafft, Leonard, einen der Nachtwächter, zu verärgern, als sie ihn darum bat, zum Reinigungspersonal etwas netter zu sein. An seinem Gesichtausdruck konnte sie ablesen, dass er es gar nicht schätzte, derartige Verhaltensmaßregeln zu bekommen. Sie musste ihm morgen unbedingt etwas Nettes sagen. Er würde mit der Zeit schon darüber hinwegkommen. Als Nachfolgerin von Milo musste sie auf die älteren und langjährigen Mitarbeiter immer noch wie ein Eindringling wirken.
Diane hätte sich am liebsten für ein oder zwei Stunden in die Badewanne gelegt, begnügte sich aber mit einer kurzen Dusche. Danach kroch sie in
Weitere Kostenlose Bücher