Sterbliche Hüllen: Thriller (German Edition)
verstrubbelten Haare und verschlafenen Augen.
Letzte Nacht war der erste wirklich glückliche Moment gewesen, den sie in einem ganzen Jahr erlebt hatte. Vielleicht hatte Gregory Recht; sie sollte wenigstens Frank ins Vertrauen ziehen.
»Nichts an seiner Geschichte stimmt. Nur dass es letztes Jahr tatsächlich eine Tragödie gab – ein Massaker, das gerade jenseits der äußersten Ostgrenze von Puerto Barquis im Amazonasgebiet Brasiliens stattfand. Es geschah aber nicht deswegen, weil ich einen Fehler gemacht hätte, sondern weil ich meinen Job zu gut erledigt hatte. Einen Job, den ich nicht verloren, sondern den ich selbst aufgegeben habe. Warte mal einen Moment.«
Sie ging zu ihrem Nachttisch im Schlafzimmer und öffnete die Schublade, in der sich nur Fotos befanden, einige mit, einige ohne Rahmen. Sie nahm sie ins Wohnzimmer mit und setzte sich wieder auf die Couch.
»Puerto Barquis ist ein Land, mit dem bei uns nicht allzu viele Leute vertraut sind. Ursprünglich erstreckte es sich vom Pazifik im Westen ostwärts bis in den Amazonasdschungel hinein. Sein Küstengebiet wurde später aber von einem anderen Land annektiert, sodass es heute vom Meer abgeschnitten ist. Die Bevölkerung hat hauptsächlich spanische, portugiesische, deutsche und indianische Wurzeln. Das Land wurde in den letzten Jahrzehnten von einer Reihe rücksichtsloser Männer beherrscht, deren letzter Ivan Santos war.«
Seine Name fühlte sich in ihrem Mund wie ein scharfkantiger Stein an und kam ihr nicht leicht über die Lippen.
»Während seiner Herrschaft hat er Tausende von Ureinwohnern abschlachten lassen, zusammen mit Hunderten anderer, die ihm entweder widersprachen oder ganz einfach im Wege standen. Ich will jetzt nicht in die Details gehen, aber schließlich wurde er doch gestürzt. Danach fanden in Puerto Barquis die ersten freien Wahlen statt, die von den Vereinten Nationen überwacht wurden. Xavier Valdividia wurde der erste legal gewählte Präsident und hatte anfänglich gute Chancen, an der Macht zu bleiben. Aber Santos und seine Handlager und Spione in der neuen Regierung warteten nur darauf, dass sich ihnen eine Gelegenheit böte, wieder an die Macht zu kommen.«
Frank hörte Diane schweigend zu, nur zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Er trank von dem Wasser, das immer noch auf dem Kaffeetisch stand, und reichte es ihr dann weiter. Sie nahm einen langen, tiefen Schluck.
»Ich arbeitete für World Accord International. Mein Team sammelte Beweismaterial – wir gruben Massengräber aus, befragten Zeugen, entdeckten, fotografierten und untersuchten geheime Folterkeller. Wir sammelten einen Berg von Beweisen für die Gräueltaten, von denen Ivan Santos behauptete, es habe sie nie gegeben. Vor allem konnten wir nachweisen, dass er hinter all dem steckte. World Accord hoffte, dass er angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt würde.
Während ich dort arbeitete, machten wir oft in einer Mission Halt, die kurz hinter der Grenze in Brasilien lag. Unser Team vergalt deren Gastfreundschaft mit Lebensmitteln, Decken und Medikamenten. Über die Jahre hatte diese Mission unzählige Flüchtlinge aus Puerto Barquis aufgenommen.«
Diane verstummte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Frank griff nach ihrer Hand und drückte sie, sagte aber kein Wort. Dies war eine Eigenschaft, die Diane an ihm besonders mochte; er wusste, wann es besser war, nichts zu sagen und einfach nur da zu sein. Sie nahm ein gerahmtes Foto, schaute es einen Moment lang an und gab es dann Frank.
»Das bin ich – mit meiner Tochter Ariel.«
Frank blickte auf das Foto und dann wieder auf Diane. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, stoppte aber und schaute noch einmal das Foto an.
»Ich wusste nicht, dass du eine Tochter hast«, sagte er. »Wo? …«, begann er seine Frage, brach aber unvermittelt ab. Diane sah die Verwirrung in seinen Augen.
»Ich muss dir von Ariel erzählen – dann wirst du es verstehen.«
20
E s dauerte einige Zeit, bevor Diane ihre Geschichte, Ariels Geschichte, weitererzählen konnte. Sie schaute aus dem Fenster auf das Wäldchen vor dem Haus. Am Himmel darüber konnte sie den schwachen Widerschein der Stadt erkennen.
»Machen wir uns frischen Kaffee«, sagte Frank. »Wir könnten beide einen gebrauchen.« Diane nickte.
Sie hörte ihn in der Küche hantieren – Wasser eingießen, Schränke öffnen und die Kaffeemaschine anmachen. Es fing an zu regnen. Diane erinnerte sich nicht, dass die
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