Sternchenhimmel
Funktion als Attrappe war es unumgänglich, dass sie der blassen Sängerin ähnlich sah, daher wäre eine gesunde Bräune problematisch gewesen, selbst von weitem.
Ansonsten hatten die beiden jungen Frauen große Ähnlichkeit miteinander. Beide waren eins siebzig groß. Beide hatten Schuhgröße 40. Ann wog 53 Kilo, während Cherry zwischen 54 und 57 Kilo schwankte, je nach monatlicher Wassereinlagerung und Alkoholkonsum. Cherrys glattes blondes Haar war einen halben Ton dunkler als Anns, aber dem ließ sich leicht abhelfen. Keine von beiden hatte auffallend große Brüste; Anns waren Natur, während Cherry drei Implantat-Sätze durchgebracht hatte und nach neuen Ausschau hielt. Beide hatten rundliche Gesichter, kleine, unoperierte Naturnasen und ein Grübchen im Kinn. Diese Übereinstimmungen waren weder unheimlich noch unnatürlich; Ann DeLusia war vorrangig wegen ihrer Ähnlichkeit mit der ehemaligen Cheryl Bunterman angestellt worden. Ihre Schauspielkünste waren ein Bonus.
Der auffälligste äußerliche Unterschied zwischen den beiden – sogar noch auffälliger als ihr Teint – waren die Augen. Cherry Pyes Augen waren grün, während Anns braun waren. Weil Ann eine geradezu krankhafte Abneigung gegen Kontaktlinsen hatte, setzte sie für gewöhnlich groteske Designersonnenbrillen auf, bevor sie mit den Paparazzi Katz und Maus spielte.
»Haben Sie Ihren Pass dabei?«, fragte Janet Bunterman.
»Scheiße«, knurrte Ann halblaut. Ihr Pass war in ihrer Wohnung in West Hollywood. Das hieß, dass sie die Bahamas vergessen konnte.
»Key West ist großartig«, sagte Cherrys Mutter. »Wir wohnen immer im Pier House.«
»Klingt gut.«
»Da gibt es einen Oben-ohne-Strand, aber …«
»Keine Sorge, Janet, ich habe literweise Schutzfaktor 50 dabei.«
Der Gedanke an einen weiteren lauten Abend unter den Angebern und Posern von South Beach war so deprimierend, dass Ann den Portier bat, ein Mietauto für sie aufzutreiben. Bei Einbruch der Dämmerung hatte sie gegessen und gepackt und war unterwegs. Die monotone Stimme des Navis schickte sie auf der Verlängerung der Schnellstraße in Richtung Süden. Sie war noch nie auf den Keys gewesen, dachte jedoch, dass es bestimmt überall interessanter war als am Ocean Drive.
Der Verkehr auf dem Highway 1 klumpte sich in Florida City, der letzten Station auf dem Festland, also fuhr Ann auf die Card Sound Road ab, eine unbeleuchtete zweispurige Mautstraße durch North Key Largo. Ihr Navi-Reisegefährte geriet bei diesem Manöver kurz in Wallung, doch sie achtete nicht auf seine strengen Anweisungen zu wenden und trat stattdessen das Gaspedal durch.
Bald erschien eine neue Straßenkarte auf dem Navi, die einräumte, dass Ann sich nicht verirrt hatte; allerdings hatte sie ihrer Reiseroute etliche Kilometer Sumpf und Mangrovenwald hinzugefügt. Eine Handvoll Autos kam vorbei, unterwegs in die Gegenrichtung, ansonsten jedoch war sie allein in einer Gegend, die aussah wie eine tropische Twilight Zone. Sie fragte sich, was aus all den grauenhaften Vorstadtsiedlungen geworden war; keine Menschenseele war zu sehen. Schließlich machte die Straße eine Kurve, und aus dem Nichts tauchte ein kleines Fischerdorf auf, wo handgemalte Schilder Blaukrabben feilboten. Sie erblickte eine Kneipe namens Alabama Jack’s dicht am Wasser und erwog, eine Pinkelpause einzulegen. Doch der Laden war dunkel, also fuhr Ann weiter zur Mautstelle. Als sie den Arm aus dem Wagenfenster streckte, um den Dollar zu bezahlen, fühlte sie Regentropfen auf der Haut.
»Wir kriegen ein Gewitter«, meinte der Mautkassierer. »Seien Sie vorsichtig auf der Brücke.«
»Danke«, sagte Ann und dachte: Was denn für eine Brücke?
Dann erhob sie sich auf der einsamen Straße vor ihr, ein steil ansteigender Betonbogen über einem breiten, aufgewühltem Kanal. Windböen stemmten sich gegen den Mietwagen, als er den Anstieg begann, also fuhr Ann langsamer und spähte angestrengt durch das eilige Hin und Her der Scheibenwischer. Oben auf der Brücke angekommen, trat sie gerade lange genug auf die Bremse, um sich die Aussicht anzusehen. Im Norden, jenseits der Biscayne Bay, leuchtete die gewaltige Masse von Miami goldgelb durch einen dünnen Wolkenschleier; in der Gegenrichtung, unter einem klareren Himmel auf der anderen Seite des Card Sound, funkelten die weit verstreuten Lichtpunkte der Inseln. Als Ann die große Brücke hinunterrollte, vorbei an geduckten Anglern und ihren Laternen, stellte sie sich vor, dass sie gerade
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