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Sterne der Karibik: Roman (German Edition)

Sterne der Karibik: Roman (German Edition)

Titel: Sterne der Karibik: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrice Fabregas
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dass niemand sie ansprach. Hin und wieder wurde sie angerempelt, zwei Mal bot ihr jemand etwas zu trinken an, doch Mafalda schüttelte nur stumm den Kopf, ohne den Blick zu heben. Die Zeit, die es dauerte, bis sie endlich den Ceiba-Baum erreicht hatte, erschien ihr unendlich lange und zugleich viel zu kurz. Was sollte sie tun, wenn sie den Baum umarmt, ihm ihre Sorgen und Ängste, ihre Scham und ihre Verzweiflung in die Rinde geflüstert hatte? Wohin sollte sie dann gehen? Sie wusste es noch immer nicht, und es sah auch nicht so aus, als ergäbe sich urplötzlich eine Möglichkeit. Doch dann war sie endlich an der Reihe. Sie trat vor, hatte das Bedürfnis, sich vor dem Baum zu verneigen, doch sie ließ es, um die vielen anderen Menschen hier nicht auf sich aufmerksam zu machen. Sie sah auch nicht die alte Frau, die, ein kleines Kind an der Hand, soeben am Baum gewesen war und nun in einer kleinen Entfernung wartete, ohne Mafalda aus dem Blick zu lassen.
    Schließlich legte Mafalda beide Hände an die zerfurchte, alte Rinde des Baumes und schloss die Augen. Sogleich wurde sie ruhiger, ihr Atem, gerade noch stoßweise und hektisch hervorgestoßen, beruhigte sich, auch ihr Herz kam zur Ruhe, die Gedanken standen still. Mafalda hatte das Gefühl, dass sie hier, an diesem Baum, Schutz und Geborgenheit fand. Hier war sie weder gut noch schlecht. Hier war sie einfach nur ein Mensch. Sie hörte wie aus weiter Ferne, dass die Nachstehenden ihr zuriefen, sie möge sich beeilen, aber sie reagierte nicht darauf. Sie stand hier, und ihre Arme flossen wie von selbst nach links und nach rechts, umfingen den Baum, ohne ihn umschließen zu können. Mafalda schmiegte ihre rechte Wange an die rauhe, von der Sonne noch warme Rinde. »Ich bin ganz allein«, flüsterte sie dem Baum zu. »Ich habe Angst, weil ich so große Schuld auf mich geladen habe. Kannst du mir helfen?« Der Baum raschelte leise mit seinen Zweigen, und Mafalda glaubte, darin ein Zeichen der Götter zu erkennen.
    Eine junge Frau schlug ihr derb auf die Schulter. »Jetzt machen Sie schon hin. Wir haben lange genug gewartet. Der Baum ist für alle da.«
    Mafalda wandte sich um, wagte es zum ersten Mal seit Stunden wieder, einem anderen Menschen ins Gesicht zu blicken. »Verzeihen Sie«, bat sie. »Ich bin sofort fertig.« Noch ein letztes Mal schmiegte sie ihre Wange an den harten Stamm, murmelte ein Dankeschön, das tief aus ihrem Herzen kam, und gab dann den alten, ehrwürdigen, zaubermächtigen Ceiba-Baum frei. Sie trat zur Seite, langsam und ohne den Baum aus den Augen zu lassen, und stieß dabei beinahe gegen eine alte kreolische Frau.
    »Entschuldigung«, murmelte sie verwirrt und wagte es, der Frau ins Gesicht zu blicken. Aber was sie sah, verschlug ihr die Sprache. Nur kurz huschte ihr Blick zurück zu dem Baum. Hast du sie mir geschickt?, fragte Mafalda in Gedanken, doch der Baum antwortete nicht.
    »Wir kennen uns, nicht wahr?« Die alte Kreolin schenkte Mafalda ein freundliches, liebevolles Lächeln. Sie tippte dem kleinen Jungen auf die Schulter und forderte ihn auf: »Sag der Doña guten Tag, Aurelio.«
    »Guten Tag.« Der kleine Junge lächelte schüchtern.
    »Augenblick!« Mafalda trat näher und sah dem Kleinen gerade ins Gesicht. »Ist das etwa …?«
    Die Frau nickte. »Ja, Doña Fischer, das ist Aurelio. Der Sohn von Titine und Fela.«
    »O mein Gott.« Mafalda wurde glühend rot vor Scham und musste die Augen schließen. »Es tut mir alles so leid. Es tut mir alles so unendlich leid.«
    Sie fühlte sich mit einem Mal so schwach, die Beine so zittrig, der Atem so flach, dass sie fürchtete, auf der Stelle umzufallen. Zugleich fiel ihr ein, dass sie heute den ganzen Tag noch nichts gegessen und nur sehr wenig getrunken hatte.
    Grazia fing sie auf, als sie zu stürzen drohte. »Was ist mit Ihnen, Doña?«, fragte sie besorgt.
    »Nichts. Nur ein kleiner Schwächeanfall.«
    Aber Grazia war eine Frau mit großer Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Sie brachte Mafalda zu einer Bank, hieß Aurelio, auf die fremde Frau ein wenig zu achten. Schon nach wenigen Minuten war sie wieder da, bei ihr ein Droschkenkutscher. »Wir fahren jetzt erst einmal zu uns nach Hause«, erklärte sie Mafalda, die schwer atmend, aber mit fragender Miene auf sie schaute. »Und dann erzählen Sie mir, was vorgefallen ist.«
    Mafalda wollte sich wehren. Es schien ihr unerträglich, heute auch noch Titine unter die Augen treten zu müssen. Titine, die sie so schmählich verraten

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