Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
hatte. Ja, sie hatte nicht verhindert, dass Hermann Titine und Fela trennte. Im Gegenteil, sie hatte an Titines Entführung vom Ingenio nach Havanna mitgewirkt. Sie hätte sich um die Schwägerin kümmern müssen. Doch das hatte sie versäumt, als Hermann mit zerschlagenen Gliedern und zerstörter Seele in die Hauptstadt gekommen war. Irgendwann war Titine verschwunden, hatte nur einen Brief hinterlassen. Mafalda kannte noch heute jedes Wort darin: »Liebe Mafalda«, hatte Titine ihr geschrieben. »Ich kann nicht mehr mit Euch leben; ich will nicht mehr mit Euch leben. Ihr, Hermann und Du, Ihr wart meine Familie. Eine Familie, die ich über alles liebte. Fast so sehr wie Fela. Aber Ihr? Habt Ihr mich je geliebt? Ich weiß es nicht, Mafalda. Ich bin so unendlich traurig über das, was geschehen ist. Jetzt habe ich niemanden mehr, dem ich vertrauen kann. Nur einen Menschen gibt es noch auf der Welt, dem ich mein Herz offenbaren kann, ohne befürchten zu müssen, dass er mir das Liebste nimmt, das ich habe. Zu diesem Menschen gehe ich jetzt. Ich werde Dir nicht sagen, wer es ist, wo der Mensch wohnt. Wenn Du Kontakt zu mir suchst, dann wende Dich an Joachim Groth. Eine kleine Weile noch werde ich mich hin und wieder bei ihm melden. Ich wünsche Dir das Leben, Mafalda, das Du verdienst. Such nicht nach mir, denn ich habe aufgehört, Hermann und Dich als meine Familie zu betrachten. Titine.«
Mafalda hatte geweint, als sie den Brief eines Morgens in Titines Zimmer gefunden hatte. Und sie war sogleich zu Joachim Groth geeilt und hatte dort erfahren, dass auch er nicht wusste, wo Titine steckte. Es gab da einen alten Mann, Cesare, der wohl wusste, wo sie war, doch der schwieg wie ein Grab, erklärte sich auch nur zögernd bereit, Nachrichten zu übermitteln. Und Mafalda war damals beinahe froh darüber gewesen, nichts mehr von Titine zu hören. Die Reue darüber, dass sie geholfen hatte, eine schwangere Frau von ihrem Liebsten zu trennen, brannte so tief in ihr, dass sie am liebsten die Augen, Ohren und vor allem ihre Gedanken davor verschloss.
Doch jetzt, am schlimmsten Tag ihres Lebens, hatte die Vergangenheit sie eingeholt.
Und jetzt begriff sie auf der Stelle, dass Titine die ganze Zeit über bei Grazia gewesen war. Sie, Mafalda, hätte es wissen, hätte es erraten können, aber sie hatte jeden Gedanken an die schwangere Schwägerin verdrängt. Oh, wie egoistisch und hartherzig war sie gewesen! Oh, wenn sie doch die Zeit zurückdrehen könnte!
»Ich … ich kann nicht …«, stammelte sie und weigerte sich, die Kutsche zu besteigen.
»Ich werde Sie nicht zwingen«, erwiderte Grazia. »Obwohl ich glaube, dass Sie gerade jetzt Hilfe sehr nötig hätten.«
»Aber Titine. Sie wird mir niemals verzeihen können. Ich schäme mich so, dass ich ihr unmöglich unter die Augen treten kann.«
Grazia lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. »Sie haben Fehler gemacht. Aber das haben wir alle schon in unserem Leben. Titine ist nicht mehr die, die sie einmal war. Auch sie hat Schweres durchgemacht. Wollen Sie auf immer mit ihr entzweit bleiben?«
Grazia hatte so ruhig und freundlich mit ihr gesprochen, ihr dabei verständnisvoll den Arm gestreichelt, dass Mafalda, die eigentlich geglaubt hatte, keine Tränen mehr zu haben, nun zu weinen begann.
»Tränen sind keine Lösung«, sagte die alte Frau leise und hielt dabei den kleinen Aurelio fest an der Hand. »Die Menschen sind dazu geschaffen, miteinander zu reden. Deshalb haben die Götter uns die Sprache gegeben. Jetzt steigen Sie schon ein. Oder haben Sie ein anderes Ziel?«
»Nein«, schluchzte Mafalda, die sich nackt und bloß, so bar allen Schutzes und aller Verstellung fühlte wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Und weil sie tatsächlich nicht wusste, wohin sie sollte, stieg sie trotz ihrer Schuld und ihrer Scham in die Droschke ein. Ein wenig Ruhe, dachte sie. Ich brauche nur ein wenig Ruhe und vielleicht einen Happen zu essen. Dann werde ich sofort wieder gehen. Ich werde mich bei Titine entschuldigen, werde, wenn es sein muss, auf Knien vor ihr rutschen, und dann werde ich gehen, ganz gleichgültig, wohin der Weg mich dann führt.
Die Droschke setzte sich in Bewegung, kam nur langsam in der Menschenmenge voran.
Ich werde in ein Kloster gehen, beschloss Mafalda, während sie, den Blick in den Schoß gerichtet, noch immer vor Reue brannte. Ich bin nicht gemacht für das Leben, ich bringe nur Unglück. In die Wälder werde ich gehen, vielleicht bis in die
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