Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
liebe, kleine Frau«, begann der Arzt, rieb sich vor Verlegenheit die Hände. »Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll.«
»Sie müssen mich nicht schonen«, beruhigte ihn Mafalda. »Ich kann die Wahrheit gut ertragen, nur mit der Ungewissheit lässt sich so schwer leben.«
»Sie sind tapfer, meine Liebe. Das weiß ich, aber das, was ich Ihnen sagen muss, ist trotz aller Tapferkeit schwer zu verarbeiten. Ich vermute nämlich, dass Ihr Mann in eine Art Starre gefallen ist. Eine Starre, die nichts mit seinem körperlichen Zustand zu tun hat.«
Er blickte in die Ferne, und Mafalda konnte sehen, wie er nach Worten suchte. Schließlich sprach er weiter: »Ich kenne so einen Zustand nur aus dem Krieg. Männer, die Schreckliches erlebt haben, geraten in diese Starre. Ihr Geist, verstehen Sie, meine Liebe, schottet sich ab, um nicht mehr das Schreckliche ertragen zu müssen.«
Er nahm einen Schluck Kaffee, den Dolores gebracht hatte. Dann seufzte er. »Ich fürchte, ich kann Ihrem Mann nicht helfen.«
Mafalda war nur halb so erschrocken, wie sie geglaubt hatte. Sie nickte. »Es ist, als wüsste ich es schon, hätte es jedoch nicht glauben können.« Auch sie sah nachdenklich in die Ferne, bevor sie fragte: »Und es gibt nichts, was man dagegen tun kann?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Er muss leben wollen. Er muss zurückfinden wollen ins Leben. Tut er es nicht, dann …« Er ließ den Satz ausklingen und schaute Mafalda so voller Mitleid an, dass sie sich unter seinem Blick am liebsten gekrümmt hätte. Dann erhob er sich, reichte ihr die Hand. »Sie sind noch jung. Ihr Leben ist noch nicht vorbei. Überlegen Sie genau, was Sie jetzt tun wollen. Es gibt auch Häuser, Einrichtungen …«
Mafalda hob die Hand, unterbrach den Arzt. »Ich gebe meinen Mann nicht in irgendeine Anstalt, die nur von sabbernden, wimmernden Menschen bewohnt ist. Er bleibt bei mir, und ich werde alles für ihn tun, was ich tun kann.«
Der Arzt nickte. »Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen werden. Vielleicht holen Sie sich trotzdem eine Hilfe ins Haus. Wie ich höre, haben Sie schließlich auch noch eine Firma zu leiten.«
Mafalda antwortete nicht. Sie fühlte sich mit einem Schlag so gotterbärmlich allein und verlassen, als wäre sie der einzige Mensch auf der Welt.
Der Doktor nutzte die Gelegenheit, sich zu verabschieden. »Und denken Sie daran, ich komme jederzeit, wenn Sie mich rufen«, erklärte er, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Mafalda blieb sitzen und starrte vor sich hin ins Leere. Sie hatte begriffen, dass sie nun endgültig Witwe war. Witwe in dem Sinne, dass es keinen Mann mehr gab, der für sie sorgte, der sie schützte, sondern nur noch das Bündel Mensch da oben im Bett, für das sie sorgen musste. Ein Gedanke, verlockend und erschreckend zugleich, bohrte sich durch ihr Hirn. Wenn er doch stürbe, dachte sie. Wenn er doch stürbe. Und zugleich schämte sie sich, schüttelte sich voller Entsetzen für diesen Gedanken, der sich jedoch einfach nicht abschütteln ließ. Wenn er doch stürbe! Dann wäre sie frei. Sie stünde noch immer vor dem finanziellen Ruin, aber sie wäre frei. Keine Schuldgefühle mehr, weil sie gesund und jung war. Keine Hoffnungslosigkeit mehr, dafür Freiheit und das Gefühl, dass ihr wieder alle Wege offen stünden. Sie war eine Gefangene Hermanns. So fühlte sie sich. Und sie war wütend auf ihn, so wütend, dass sie jetzt in Tränen ausbrach. »O Gott«, wimmerte sie. »Ist das mein Leben? Soll es so, wie es jetzt ist, endlos weitergehen?« Die Verzweiflung schüttelte ihren ganzen Körper, doch der Klumpen in ihrem Magen löste sich nicht, im Gegenteil, er drückte ihr so sehr die Luft ab, dass sie glaubte, ersticken zu müssen. Sie hatte gesehen, wie der Arzt sie angeschaut hatte, voller Mitleid, aber hin und wieder einen begehrlichen Blick auf ihre vollen, festen Brüste richtend. Sie könnte wieder heiraten, könnte vielleicht sogar im letzten Moment noch ein Kind bekommen, ein normales Leben führen, würde Hermann sterben. Es wäre doch so einfach. Alle Probleme wären auf einen Schlag gelöst.
Sie merkte kaum, dass sie aufstand und die Treppe zum Schlafzimmer hinaufstieg. Mit einem Mal fand sie sich vor Hermanns Bett wieder. Er schlief. Das ehemals dunkle, nun schon an den Schläfen ergraute Haar hing wirr um seinen Kopf herum. Er hatte den Mund halb geöffnet und stieß seltsame Laute zwischen rissigen, grauen Lippen aus, die an ein Tierchen erinnerten.
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