Sterne im Sand
Charlotte müde, aber äußerlich gefaßt in der Tür erschien.
»Louisa, es ist zehn Uhr, und im Salon ist noch nichts gerichtet.«
»Ich weiß, Charlotte. Wir haben heute morgen viel zu tun. Geht es dir gut? Möchtest du eine Tasse Tee?«
»Nicht jetzt. Ich möchte erst die vorderen Zimmer in Ordnung bringen.«
Louisa berichtete Victor, daß seine Mutter heruntergekommen sei und sehr gefaßt wirke. »Gott sei Dank.«
»Gut, ich hatte mich nämlich schon gefragt, ob sie überhaupt imstande sein würde, am Begräbnis teilzunehmen. Ich will mal nachsehen, ob ich ihr irgendwie zur Hand gehen kann.«
Cleo war schier überwältigt von der ungeheuren Menschenmenge, die aus Anlaß von Mr. Brodericks Begräbnis zusammengekommen war. Gerührt bemerkte sie, daß auch viele einfache Viehhüter von anderen Farmen gekommen waren, um sich von diesem Pionier zu verabschieden. Charlotte stand tief verschleiert am Grab, umgeben von ihren drei Söhnen, deren blondes Haar der düsteren Zeremonie ein wenig Licht verlieh.
Die Kirchenlieder schwollen im Wind, der durch das Tal fegte, an und ab. Louisa sang solo »Nun danken alle unserm Herrn«, weil sie eine schöne Singstimme besaß.
Und dann war auf einmal alles vorbei.
Die Gäste zogen sich leise und respektvoll zum Nachmittagstee ins Haus zurück und wurden später von Charlotte vor der Tür verabschiedet. Als sich die verbliebenen Damen im Salon versammelten, suchte Cleo ihr Zimmer auf, wo zu ihrer Überraschung von draußen Gesang zu ihr drang.
Sie trat ans Fenster und lauschte. Die Männer hielten unten am Fluß ihre eigene Totenwache ab. Sie sah das Flackern der Lagerfeuer und roch den eukalyptusgeschwängerten Rauch. Das alles wirkte sehr tröstlich auf sie. Anstelle von Kirchenliedern sangen sie Balladen, traditionelle Weisen so vertraut wie alte Freunde, die davon zeugen sollten, daß sie Austin Broderick ebensowenig vergessen würde wie seine Familie.
»Müßt ihr denn wirklich schon aufbrechen?« wollte Charlotte am nächsten Morgen von Harry wissen. »Könnt ihr nicht noch ein bißchen bleiben?«
»Leider nicht, zu Hause wartet viel Arbeit auf mich. Du mußt uns bald einmal besuchen, ein Urlaub würde dir sicher guttun.«
»Ich habe hier so viel zu erledigen …«
Er legte seiner Mutter den Arm um die Schultern. »Komm, Austin würde nicht wollen, daß du traurig bist. Du hast dich prächtig gehalten, aber jetzt mußt du ein bißchen kürzer treten. Soll ich dich in vierzehn Tagen abholen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bitte dräng mich nicht, Harry, ich kann Springfield jetzt noch nicht verlassen. Es ist schwer genug, den Tag zu überstehen.«
»Ich weiß«, antwortete er sanft. »Du kommst, wenn dir danach ist.«
»Fahr bitte noch nicht weg«, bat Charlotte eindringlich.
»Bleib noch einen Tag, ich brauche dich hier. William Pottinger wartet, bis die letzten Gäste weg sind, und will dann das Testament eröffnen. Es soll alles ganz offiziell ablaufen.«
»Ein Grund mehr für mich, das Haus zu verlassen. Rupe hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß ich nicht darin bedacht wurde.«
»Ach, was weiß Rupe denn schon?«
»Aber es stimmt doch, oder? Schau mal … ich will dir und den anderen keine Schwierigkeiten machen. Es war Austins Entscheidung, und ich muß sie akzeptieren.«
»Ich möchte dennoch, daß du bleibst. Ich brauche dich wirklich hier bei mir. Die anderen interessieren sich nicht für mich.«
»Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Sag mir, daß du bleibst«, beharrte Charlotte. »Tu einmal im Leben etwas für mich.«
Zu seiner Überraschung war Connie einverstanden. Sie hatte nicht einmal etwas dagegen, bei der Testamentseröffnung im Salon anwesend zu sein. »Ich dachte, es wäre dir peinlich, wenn dein Ehemann wie das fünfte Rad am Wagen daneben sitzt.«
»Keineswegs. Ich möchte es mit eigenen Ohren hören.«
»Wie du willst.«
Louisa stieß Victor an, als die beiden den Raum betraten. Er sah nervös zu ihnen hinüber. Rupe schenkte ihnen keine Beachtung, und Charlotte nickte Pottinger zu. »Sie können anfangen.«
William Pottinger wirkte mit seinem hageren, gebräunten Gesicht und den großen Händen eher wie ein Farmer, doch alle wußten, daß er als Anwalt nahezu unschlagbar war. Er raschelte mit den Papieren, die auf der polierten Tischplatte lagen, schob seine Frackschöße nach hinten und nahm Platz. Harrys Gegenwart schien ihn nicht zu stören.
Er hüstelte. Verlas das Datum des Testaments und
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