Sterne über Cornwall: Roman (German Edition)
geblieben war. Obwohl sie erst ein paar Tage mit ihm verbracht hatte, nervten seine Gewohnheiten sie schon hin und wieder.
»Wie geht’s deiner Mutter heute?«, fragte er.
»Sie ist nicht meine Mutter, sondern meine Stiefmutter, und ihr geht’s gut.«
Hannah schenkte den Kaffee ein. Tom nahm die Tasse und begann sein Zuckerritual. Er machte einen Löffel voll und klopfte ihn dann an der Seite der Schale ab, bis er genau halb voll war. Warum nahm er nicht gleich einen halben?
»Wie war das Essen gestern Abend im Lokal?«, erkundigte sie sich.
»Ausgezeichnet, danke. Und was hast du gemacht?«
»Ich habe mit Ihrem Buch über Cornwall in der Tudorzeit angefangen. Das gefällt mir besser als das aus der Schule.« Hannah schwieg kurz. »Wann haben Sie mit dem Unterrichten aufgehört?«
»Vor zwanzig Jahren.«
»Warum?«
»Das Schulleben hat sich verändert.«
»Ja, freie Liebe und Drogen. Klingt irgendwie gut.«
»Das hängt von der Perspektive ab, und außerdem hatte diese Veränderung schon früher stattgefunden.«
»Müssen Sie immer so genau sein?«
»Warum nicht, wenn es möglich ist?«, fragte Tom zurück.
»Könnte mir vorstellen, dass das irgendwann langweilig wird.«
»Nein, nie.«
»Wenn Sie meinen.«
Old Tom war Hannah ein Rätsel. Sie rechnete nach: Wenn er vor zwanzig Jahren aufgehört hatte zu unterrichten, war er jetzt fünfundachtzig. Er hatte sich ziemlich gut gehalten, aber bestimmt war er jünger, denn sonst hätte er nicht genug Kraft für die Arbeit hier gehabt, oder? Sie beobachtete, wie er ein Stück Holz in die Hand nahm und ganz langsam zu sägen begann. Dann überließ er es Hannah. Bei ihrem ersten Versuch war sie zu schnell gewesen und hatte das Holz gespalten. Jetzt wusste sie, dass man bei grobem Holz schnell sein konnte, bei feinem jedoch vorsichtiger ans Werk gehen musste.
Der Griff der Säge fühlte sich warm, glatt und vertraut an. Old Tom sah ihr eine Weile zu, bevor er sich einem anderen Stück zuwandte. Sobald er davon überzeugt war, dass er ihr vertrauen konnte, hatte er ihr nicht mehr dreingeredet und sie in ihrem Rhythmus arbeiten lassen.
»Maddie?« Als Hannah mit einem alten Buch in der Hand die Treppe herunterkam, stieß sie mit Maddie zusammen, die aus dem Wohnzimmer hastete.
» Hallo , wie siehst du denn aus?« Hannah blieb stehen. »Was hast du gemacht?«
»Nichts. Was liest du da?«
»Ein Buch über Schmuggler in Cornwall. Trevenen liegt am Anfang des Frenchman’s Creek, eines bekannten Schmugglerpfads.«
»Tatsächlich?«
»Hast du das noch nicht mitgekriegt?« Hannah sah sie an. »Jedenfalls hat das Buch mich auf die Idee gebracht, dass wir hier im Haus geheime Räume haben könnten.«
»Seit wann interessierst du dich für Schmuggler?«
Fast hätte Hannah verächtlich geschnaubt. »Hier gibt’s ja sonst nichts zu tun, oder?« Sie merkte, wie Maddies Mundwinkel zuckten. »Dir scheint jede natürliche Neugier zu fehlen. Du hast dich nicht über deine Eltern informiert, und jetzt hast du dieses tolle alte Haus …«
»Das ist nicht fair. Ich habe Nachforschungen über meine Mutter angestellt und weiß nicht, wer mein Vater ist.«
»Hat es dich denn nicht stutzig gemacht, dass du so ganz anders aussiehst als deine Adoptivmutter?«
»Ich hatte Ähnlichkeit mit meinem Vater. Er war groß und dunkel wie ich. Wieso hätte ich da neugierig werden sollen?«
Hannah runzelte die Stirn. »Ich verstehe das trotzdem nicht. Wie konntest du keinen Verdacht schöpfen?«
»Ich hatte keinen Grund, mein Leben infrage zu stellen.« Maddie schwieg kurz. »Möglicherweise hast du recht. Vielleicht mangelt es mir an Neugierde, oder wahrscheinlich vertiefe ich mich einfach zu sehr in andere Dinge. Machst du dir denn Gedanken über deine Mutter?«
»Stopp, genug von der Seelenschau.« Hannah hob die Hand. Mit Maddie wollte sie nicht über ihre Mutter sprechen. »Ich wollte dich nur fragen, ob dir im Haus irgendwas aufgefallen ist.«
»Nein.« Maddie schüttelte den Kopf. Dann stutzte sie. »Warte. Vor einiger Zeit habe ich im Wohnzimmer ein scharrendes Geräusch gehört.«
»Wir haben also Mäuse.«
»Ja, scheint so«, pflichtete Maddie ihr bei und ging ins Wohnzimmer. Hannah folgte ihr und beobachtete mit offenem Mund, wie Maddie an die Holzverkleidung am Kamin trat, dagegenklopfte und den Finger um den Rand einer Platte gleiten ließ. Plötzlich öffnete sich eine Tür.
9
D er Staub brachte Maddie zum Husten. Die Öffnung war klein, bestand nur aus zwei
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