Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
Richtung Uhlenhorst fahren würde, aber Heinrich mochte keine Unpünktlichkeit. Auch nicht im Privaten, und schon gar nicht, wo er doch wusste, wie schnell Emily in Sorge geriet, wenn er sich verspätete.
Der von zwei massigen Pferden gezogene Wagen rollte gerade unter Hufgeklapper in flottem Tempo auf den Schienen heran, an deren Rand zahlreiche Menschen darauf warteten einzusteigen, zumeist Ausflügler, die das schöne Wetter aus der Stadt herausgelockt hatte und die nun wieder zurückwollten, ehe es dunkelte. Mit einem Blick sah Heinrich, dass die Pferdebahn schon gut besetzt war, sowohl hinter den Fenstern des Coupés als auch oben auf dem überdachten Deck des Wagens. Alle Wartenden würden kaum Platz darin finden; ein Gutteil von ihnen müsste wohl oder übel auf den nächsten Wagen warten. Ein junger Bursche am anderen Ende des Perrons nahm am Gleis entlang Anlauf und sprang auf die heranfahrende Bahn auf, hangelte sich vom Trittbrett zum Einstieg hinauf und verschwand im Coupé. Ein winziger Augenblick des Zauderns bei Heinrich, eine Spur von Scham für eine solche Unhöflichkeit, die zu begehen er im Begriff war, dann beschleunigte er seinen Schritt, hetzte an der Menschenmenge vorbei und war mit einem Satz auf dem Trittbrett des Wagens.
Er hatte sich verschätzt.
Heinrich kam auf dem schmalen Trittbrett nicht richtig auf und verlor das Gleichgewicht. Suchte Halt an den Griffen, verfehlte sie, ruderte mit den Armen und fiel. Atmete auf, als er spürte, dass sein Hosenbein irgendwo festhing, seinen Sturz aufhielt. Der Stoff riss, und Heinrich schlug hart mit Rückenund Hinterkopf auf. Er hörte gellende Schreie, das Kreischen der Bremsen.
Zu spät, viel zu spät. Mit einem grausamen Knirschen rollte ein Eisenrad über ihn hinweg, schnitt durch die Haut, zerquetschte Fleisch und zermalmte Knochen. Schmerz, flammender, lodernder Schmerz, unerträglich. Ich lebe noch.
Erleichterung, als die Bahn zum Stillstand kam, barmherzige Hände ihm aufhalfen. Er konnte stehen und sich gestützt bis zur nächsten Droschkenstation schleppen, um nach einem Arzt zu schicken.
Ich lebe noch.
Emily wurde aus tiefem Schlaf geweckt, als Friederike, das Kindermädchen, mit ihren beiden größeren Schützlingen an das Bett trat.
»Wünscht eurer Frau Mama eine gute Nacht«, sagte sie zu den Kindern.
Das Gutenachtsagen war ein wichtiges Ritual im Hause Ruete. Die zweieinhalbjährige Tony, schon im Nachthemdchen, zog sich über die Bettkante hinauf und gab Emily ein schmatzendes Küsschen. »Nacht, Mama!«
»Gute Nacht, mein Liebes.« Emily drückte ihre Tochter an sich, bevor sie sich aufsetzte und Friederike ihr Said übergab, den sie ebenfalls herzte. »Gute Nacht, mein kleiner Prinz.«
»Natt« , machte Said. Schon heftig gähnend, winkte er ihr vom Arm Friederikes aus noch einmal zu, indem er mit dem Ärmchen wedelte.
Obwohl es erst acht Uhr war, läutete Emily nach Anna, damit diese ihr beim Auskleiden half. Zwar hatte sie fast den ganzen Nachmittag geschlafen; trotzdem war sie noch immer müde, fühlte sich wieder leicht fiebrig. Im Nachthemd schlüpfte sie zurück ins Bett und wartete auf Heinrich.
Bis die Uhren im Haus die neunte Stunde schlugen, bliebEmily noch liegen. Allmählich jedoch begann sie unruhig zu werden, horchte in den Sommerabend hinaus, der erfüllt war vom Tuten der Dampfer draußen auf der Alster.
Vielleicht ist er mit der Bahn bis in die Stadt hineingefahren und nimmt von dort eines der Schiffe hier herüber …
Es wurde zehn, es wurde elf. Ein Zittern kroch in Emily empor, ließ sich nicht unterdrücken. Sie sprang aus dem Bett und wanderte unruhig durchs Haus.
»Sie sorgen sich um den gnädigen Herrn, nicht wahr?«, fragte Friederike mitfühlend, der sie im Korridor begegnete. »Seien Sie ganz beruhigt, Frau Ruete. Bestimmt ist etwas ganz Harmloses dazwischengekommen.« Sie klang jedoch nicht wirklich überzeugt. Die Pünktlichkeit und die Zuverlässigkeit Heinrichs waren sprichwörtlich bei jedem, der ihn kannte. Emily konnte nur nicken und setzte ihren Weg durch das Haus fort, bis sie wieder in ihrem Schlafgemach angelangt war und sich unter der Decke verkroch. Sie umschlang Heinrichs Kissen und vergrub das Gesicht darin, sog tief den Geruch ihres Mannes ein, der noch im Stoff hing.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ihm nichts geschehen ist.
Es war Mitternacht. Emily fror erbärmlich, und ihr Kopf glühte. Das durch die Aufregung gestiegene Fieber ließ sie wild phantasieren, was Heinrich
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