Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
am nächsten Morgen wie zerschlagen zu erwachen und festzustellen, dass es nur ein Traum gewesen war. In einem Bett, das ohne ihn kalt war und leer.
Wie ein Geist wanderte Emily rastlos umher, suchte Antworten auf unausgesprochene Fragen, doch sie fand keine. Sie verlangte nach Halt und nach Trost, doch sie bekam weder das eine noch das andere. Ein Teil von ihr war mit Heinrich gestorben, und ihre Seele trug Trauer. Die Trauer hüllte sie ein in dickes graues Tuch, das die Sinne abstumpfte und keine andere Regung zuließ außer dem Schmerz. Selbst ihre Kinder waren ihr fremd geworden.
Sie ertrug es nicht, dass Tony und Said beständig fragten, wann ihr Papa denn wiederkäme, und weinend nach ihm riefen; dass Rosa, die spürte, wie sehr ihr Zuhause aus den Fugen geraten war, und die den inneren Aufruhr der Menschen umsich herum wahrnahm, plötzlich weinerlich wurde. Sie ertrug die plötzliche Anhänglichkeit nicht, mit der sich ihre Kinder an ihre Hand oder an ihren Rockzipfel klammerten, und überließ sie mehr und mehr Friederike.
Ich wünschte, ich hätte sie nie geboren, dachte Emily ein ums andere Mal. Ich wünschte, ich wäre tot. Ich wünschte, ich würde an Heinrichs Seite im Grab liegen.
Es war an einem solchen Abend, an einem Abend aus Blei und Asche, dass sie sich auf Zehenspitzen am Kinderzimmer vorbeischlich, hinauf in ihr Schlafzimmer. In der Hoffnung, die Kinder würden sie nicht hören und nicht nach ihr rufen. Doch sie selbst hörte sehr wohl, wie Said leise weinte und unaufhörlich »Papa. Papa. Papa« wimmerte. Emily wollte sich schon die Ohren zuhalten, als sie das Geräusch von bloßen Füßchen wahrnahm, die über den Boden tapsten.
»Nich’«, sagte Tonys feines Stimmchen. »Nich’ weinen. Nich’ Papa rufen. Sonst muss die Mama wieder so arg weinen.«
Emily presste die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschluchzen. Geräuschlos trat sie näher und spähte um den Türrahmen herum.
Said saß auf dem Boden, seine Eisenbahn aus Holz achtlos neben sich umgekippt, die dunklen Augen voller Tränen. Und Tony kniete vor ihm, wischte ihrem Bruder über die nassen Wangen, bevor sie ihn tröstend in ihre rundlichen Arme schloss.
Ein hoher, dünner Klagelaut entfuhr Emily. Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und in die Hocke sinken, wobei ihre weiten Röcke sich zu einer Wolke um sie herum aufbauschten und dann in sich zusammensanken. Weinend vergrub sie das Gesicht in den Händen.
Was bin ich nur für eine Mutter! Meine Tochter ist noch nicht einmal drei Jahre alt und muss meinen Sohn mit seinen noch nichteinmal zwei Jahren trösten, weil ich nicht in der Lage bin, für sie da zu sein. So kann es doch nicht weitergehen.
Sie schrak auf, als etwas an ihren Röcken zupfte und dann auf ihre Beine zu klettern begann. Verzerrt hinter ihrem Tränenschleier sah sie Tony, die unnachgiebig ihre Nähe suchte und ihrer Mutter nun in kindlich-unbeholfenen Bewegungen mit einem Taschentuch die Tränen zu trocknen begann.
»Nich’ weinen, Mama«, befahl sie energisch. »Wird doch alles wieder gut!«
»Ach, Tony«, schluchzte Emily auf und zog ihre kleine Tochter in die Arme. »Ich wüsste nicht, wie! Ich weiß nicht, wie ich jetzt weiterleben – was aus uns werden soll.«
Sie sah auf, als sie einen Stupser erhielt. Es war Said, der ebenfalls angelaufen gekommen war und wie ein bockiges Zicklein seine Stirn gegen Emilys Schulter schubste. Unwillkürlich hoben sich Emilys Mundwinkel, und sie schloss auch ihren Sohn in ihre Umarmung mit ein. Es tat wohl, diese beiden warmen Kinderkörper zu spüren, die aus ihr und Heinrich hervorgegangen waren. Es war nicht der Trost, den sie brauchte – aber es war gleichwohl einer.
Es muss weitergehen. Irgendwie. Das bin ich den dreien schuldig. Meinen Kindern.
Heinrichs Kindern vor allem.
50
»Natürlich würden wir dich gern nach Kräften unterstützen«, begann Johanna Ruete und warf einen besorgten Blick zu ihrem Gatten hinüber. »Aber mit drei Kindern … Wir haben doch selbst nur so wenig Platz. Und durch Hermanns Leiden …« Sie brach ab und zupfte fürsorglich die Wolldecke zurecht, die ungeachtet des warmen Spätsommertages über den Beinen von Heinrichs Vater lag.
Hermann Ruete sah in der Tat schlecht aus. Der vorzeitige Tod seines ältesten Sohnes hatte für den gesundheitlich angegriffenen Mann einen herben Schlag bedeutet. Emily hatte ihn nie weinen sehen, und doch schien ihr Schwiegervater ernsthaft zu trauern. Man sah es an den neuen
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