Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
Kriegsschiffe ablegen, voll bemannt und mit Kanonen an Bord.
»Ein Soldat muss uns unterwegs gesehen und Barghash trotz seiner Verkleidung erkannt haben«, flüsterte Chole neben ihr, ohne sie anzusehen. »So erzählt man es sich überall. Er glaubte wohl, Barghash beabsichtige, von der Insel zu fliehen, und wollte uns Frauen auch nicht bloßstellen. Zahlreiche Araber sind heute in aller Frühe offenbar aus der Stadt aufgebrochen, um sich Barghash in Marseille anzuschließen, und als das die Runde machte, hat jener Soldat wohl eins und eins zusammengezählt und Majid Bericht erstattet.« Choles Augen richteten sich auf Salima. »Majid zieht gegen Marseille in den Krieg.«
Endlos zog sich der Tag in die Länge, ließ die Frauen von Beit il Tani zwischen Hoffen und Bangen, Erwartung und Zweifel schwanken. Am Nachmittag dann war Donnergrollen zu hören, obwohl der Himmel klarblau und sonnenüberglänzt war, glatt wie kostbare Fayence: der Nachhall des Kanonenfeuers und des Geschützknallens, der Gewehrschüsse, die auf Marseille niedergingen. Die Schwestern hielten sich bei den Händen, saßen beieinander und lauschten dem Echo des Kampfes im Inneren der Insel, der nebelhaft und ungreifbar blieb und sie in entsetzlicher Ungewissheit ließ.
Und dann, gegen Abend: Stille.
Eine ganze unvorstellbar zähe, schreckliche Nacht lang Stille.
Der Morgen brach unschuldig an in seinen Farben von Blau und Gold, doch auch er hüllte sich zunächst in bleiernes Schweigen. Nichts drang durch nach Beit il Tani, keine Nachricht, weder gut noch schlecht.
Erst die Stimme eines Boten, der über die Schwelle des Hauses stolperte, füllte die Leere mit Worten, atemlos und abgehackt, lieferte Antworten auf all die Fragen in den Köpfen und auf den Lippen der Frauen. »Sayyid Barghash hat eineNiederlage erlitten! Er ist zurück in seinem Haus! Marseille wurde beschossen, es besteht nur mehr aus Ruinen! Hunderte von Toten und Verwundeten sind zu beklagen! Sayyid Barghash lehnt Verhandlungen ab. Er will keinesfalls aufgeben!«
Marseille – zerstört? Wie betäubt nahm Salima diese Nachricht auf. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder: Wände voller Spiegel, in denen das Licht der üppigen Kristalllüster glänzte und schimmerte. Böden aus Marmor in Schwarz und Weiß und kunstvoll bemalte Decken. Wunderwerke aus Europa wie eine Uhr, aus der beim Stundenschlag Figuren hervortraten, die zu einer feinen Melodie auf Instrumenten spielten und umeinander herumtanzten. Rosenstöcke im Garten, dazwischen spiegelnde Silberkugeln, auf Stäben in die Erde gesteckt, und üppig sprudelnde Brunnen. Marseille war ihr immer vorgekommen wie ein Märchenland – unvorstellbar, dass es nun nicht mehr existieren sollte.
»Salima! Komm schnell! Schnell, Salima, wo steckst du?!«
Choles Schrei zerriss Salimas Gedankengang, und sie rannte in das Gemach der Schwester, das die beste Aussicht auf Häuser, Hafen und Palast bot. Choles Blick war auf das Meer gerichtet.
»Was ist das für ein Schiff ?«
»Bist du mit Blindheit geschlagen, Salima? Erkennst du die Flagge nicht?«
Im Wind flatterte der blau-rot-weiße Union Jack der Engländer, und der gewaltige Segler schob sich gerade in Stellung: mit der Flanke so dicht an den von englischen Soldaten bevölkerten Kai heran wie nur möglich und doch weit genug von Beit il Sahil entfernt, um es nicht in Gefahr zu bringen. Denn auf ein hier oben unhörbares Kommando hin fuhren gleichzeitig sämtliche Geschütze an Bord aus und richteten ihre Mündung auf Barghashs Haus. Und damit auf Beit il Tani, das leicht versetzt dahinterstand.
»Dieser Feigling«, zischte Chole neben ihr voller Verachtung. »Wie sehr muss Majid Barghash fürchten, dass er die Engländer zu Hilfe holt?!«
Salimas Knie zitterten, ihr Magen ballte sich zusammen, dehnte sich unvermittelt wieder aus, und ein saurer Geschmack stieg ihr in die Kehle.
»Wir müssen Barghash dazu bringen, dass er sich ergibt«, flüsterte sie. »Sonst werden wir für diese Revolte alle mit dem Leben bezahlen.«
Chole wandte sich ihr ruckartig zu. »Was redest du da?«
»Es wäre nie so weit gekommen, wenn ihr rechtzeitig von euren Plänen abgelassen hättet, du und Barghash«, erwiderte Salima, im Angesicht der Bedrohung mit einem Mal erstaunlich gefasst. »Euer Unterfangen war von der ersten Stunde an zum Scheitern verurteilt.« In ihr herrschte eine Klarheit, wie sie sie seit Monaten nicht gekannt hatte. Als hätte sie erst in diesem Augenblick gelernt zu
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