Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
tiefem Schlaf. Auf dem Gehsteig blickte sich Ricarda noch ein letztes Mal um. Die Fenster erschienen ihr wie tote Augen, die ihr nachsahen, jedoch nicht nachtrauerten. Ricarda murmelte traurig »Lebt wohl!«, bevor sie in der Dunkelheit verschwand.
Teil zwei
Aufbruch in eine neue Welt
1
»Hallo, Miss, alles in Ordnung mit Ihnen?«
Der Klang der Männerstimme zog sie aus der Dunkelheit fort. Ricarda schlug die Augen auf.
Zunächst sah sie nur einen diffusen hellen Fleck über sich, doch der verdichtete sich nun zum Gesicht des Schiffsarztes. Wie die meisten Mitglieder der Besatzung war er Engländer, ein freundlicher Mann mit blauen Augen, schütterem blondem Haar und einem Schnurrbart, um den ihn selbst Kaiser Wilhelm beneidet hätte.
Obwohl der Mann sie auf Englisch angesprochen hatte, antwortete Ricarda auf Deutsch.
»Ja, alles in Ordnung.«
Der Arzt sah sie verwundert an, dann lächelte er.
»You're the German nurse!«
Ricarda nickte und antwortete diesmal auf Englisch. »Ja, die bin ich. Was ist passiert?«
»Sie haben sich ein wenig den Kopf angeschlagen, aber es ist nichts weiter passiert. Eine der Passagierinnen hatte mich gerufen.«
Ricarda wollte sich aufrichten, wurde aber von einem stechenden Schmerz im Hinterkopf zurück auf ihr Lager gezwungen. Als sie zur Decke schaute, bemerkte sie, dass dies nicht das Krankenzimmer des Schiffes sein konnte. Der Raum wirkte eher wie eine der Kabinen. Es war ihre Kabine!
Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie hatte ein Weinen vernommen ... Plötzlich hatte sie wieder das Bild der Frau vor sich, die sich über den bewusstlosen Mann beugte. »Was ist mit dem Mann in Kabine neun?«
Die Miene des Arztes wurde augenblicklich ernst. »Sie wollten ihm helfen, nicht wahr?«
Ricarda nickte. »Ja, ich hörte seine Frau weinen und wollte nachsehen, was los ist.«
»Das ist ehrenhaft von Ihnen. Leider hat der Mann einen Herzinfarkt erlitten und ihn nicht überlebt. Selbst ich hätte nichts mehr für ihn tun können.«
Aber ich hätte ihn vielleicht retten können, dachte Ricarda. Wenn ich nur die Gelegenheit gehabt hätte ...
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Miss! Manchmal ist die Natur eben unerbittlich. Auch als Arzt kann man nicht jeden retten. Eine bittere Erkenntnis, zugegeben; aber sie holt einen zwangsläufig ein, auch wenn man noch so viel Können besitzt.«
Ricarda wusste nicht, ob sie ihm Recht geben sollte. Sie wusste nur, dass sie sich nicht so schnell geschlagen geben wollte, auch wenn die Natur sie außer Gefecht gesetzt hatte. »Das Schiff«, platzte es aus ihr heraus. »Es bewegt sich nicht mehr so heftig.«
»In der Tat.« Der Doktor lächelte. »Der Sturm hat sich vor einigen Stunden gelegt. Gott sei's gedankt, ich dachte schon, wir würden uns auf dem Meeresboden wiederfinden.«
Die Worte des Arztes waren wie ein Sonnenstrahl, der eine finstere Wolkendecke durchbrach. Der Sturm hatte aufgehört! Das Schiff war nicht geborsten. Die Reise konnte weitergehen.
»Nach ein paar Seemeilen werden wir Land sehen. Dies ist nicht meine erste Reise auf diesem Schiff, müssen Sie wissen. Die bisher turbulenteste vielleicht, aber nicht die erste. Ich würde mein Stethoskop darauf verwetten, dass wir bald da sind.«
Jetzt zog ein Lächeln über Ricardas Gesicht. Neuseeland. Sie würde es schaffen und dort ein neues Leben beginnen.
»Ach, wo wir gerade vom Stethoskop reden.« Der Arzt griff in seine Jackentasche und holte das Instrument, das Ricarda bei ihrem Sturz verloren hatte, hervor. »Das gehört wohl Ihnen.«
Ricarda nickte und streckte die Hand danach aus. »Danke.«
»Ich muss schon sagen, dass es verwunderlich ist, solch ein gutes Stethoskop an einer Krankenschwester zu sehen.«
»Es war ein Geschenk«, erklärte Ricarda, was keine Lüge war. »Von einem Arzt, den ich einst sehr geschätzt habe.«
Bei dem Gedanken an ihren Vater krampfte sich ihr Magen zusammen. Wie mochte er auf ihre Abreise reagiert haben? War er verärgert? Oder hatte er eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hatte? Vielleicht würde sie es nie erfahren.
Der Schiffsarzt deutete ihr Schweigen offenbar als den Wunsch, sich auszuruhen.
»Ich werde Sie jetzt erst mal allein lassen. Es haben sich so etliche Leute den Kopf gestoßen, als sich unser Pferdchen aufgebäumt hat.«
Ricarda nickte und verzog das Gesicht, denn das Stechen meldete sich zurück.
Der Arzt bemerkte das offensichtlich, denn er fügte hinzu: »Ich habe Ihnen Schmerzmittel
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