Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
auf den Nachtschrank gelegt, das hilft gegen das Pochen. Ach ja, seien Sie in der nächsten Zeit vorsichtig beim Kämmen, ich musste eine Platzwunde nähen. Es wäre nicht gut, wenn die Zinken in der Naht hängen blieben.«
»Platzwunde?«, fragte Ricarda. »Sie haben vorhin nichts von einer Platzwunde gesagt.«
»Sie haben mich ja gleich nach dem Passagier in Kabine neun gefragt«, entgegnete der Arzt lächelnd. »Die Wunde ist harmlos, aber dennoch musste ich sie nähen. Bevor Sie das Schiff verlassen, sollten Sie sich noch einmal bei mir melden, damit ich Ihnen die Fäden ziehen kann.«
Ricarda nickte. »Danke, Doktor.«
»Keine Ursache. Und lassen Sie es mich wissen, falls Sie etwas brauchen.«
Als der Arzt gegangen war, erhob sich Ricarda vorsichtig von ihrem Lager. Auf dem Nachttisch fand sie tatsächlich das Schmerzpulver. Sie löste den Inhalt eines Päckchens in dem Glas Wasser auf, für das der Arzt ebenfalls gesorgt hatte, und trank es. Der bittere Geschmack löste in ihr den Drang aus, sich zu schütteln, aber Ricarda widerstand mit Rücksicht auf ihren lädierten Kopf.
Anschließend tastete sie sich am Bett entlang zur Kommode. Da sie an der Wand festgeschraubt war, hatten sich bei dem Sturm lediglich die Schubladen geöffnet, aber das kümmerte sie nicht. Sie wollte zu dem Spiegel, der an der Wand angebracht war. Er hing ein wenig schief.
Ricarda erschrak angesichts ihres Spiegelbilds. Das Blut aus der Kopfwunde hatte rostbraune Spuren im Haar und auf der Stirn hinterlassen. Der Verband war beängstigend groß, aber wahrscheinlich sollten die Mullschichten sie nur davon abhalten, sich die Wunde anzusehen. Nachdem sie ihr Gesicht betastet und ihr Haar geordnet hatte, kehrte sie ins Bett zurück.
Was ihre Eltern wohl sagen würden, wenn sie sie so sähen?
Bei der Abfahrt aus Hamburg, als sie an Deck der Anneliese stand, um ihrer Heimat Lebewohl zu sagen, hatte Ricarda sich vorgestellt, wie es wäre, die Gestalt ihres Vaters unter den Winkenden zu erblicken. Gleichzeitig hatte sie gewusst, dass das unmöglich war. Jetzt fragte sie sich, wie es ihm ging, und als ihr bewusst wurde, dass sie es wohl nicht erfahren würde, fühlte sie einen Anflug von Schwermut. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Die Madeleine, auf der sie sich in Bristol eingeschifft hatte, würde bald in Neuseeland eintreffen.
Die Vorhersage des Arztes bewahrheitete sich. Die See blieb ruhig, und nach ein paar Tagen tauchten die ersten Sturmtaucher auf, ein sicheres Zeichen, dass das Ziel nicht mehr weit war. Tatsächlich gellte der Ruf »Land in Sicht!« nur wenige Stunden später über das Oberdeck, worauf Matrosen und Passagiere an die Reling stürmten.
Ricarda erblickte einen schmalen grauen Streifen, der sich kaum von der Linie des Horizonts unterschied. Aber als sie am nächsten Morgen die Augen öffnete, spürte sie deutlich, dass sich etwas verändert hatte: Die Luft roch anders und war wärmer geworden. Sie erschien Ricarda auch weicher - fast wie ein Schleier, der sinnlich über ihre Haut strich. Ja, kein Zweifel, es war eine andere Luft, die in ihre Lungen strömte. Der allgegenwärtige Geruch nach Kohle, Eisen und Maschinenfett war von etwas durchsetzt, was Hoffnung und Zuversicht verbreitete.
Eine seltsame Lebendigkeit überkam Ricarda, ein Kribbeln, das durch ihre Glieder zog und sie aus dem Bett trieb.
Im runden Kabinenfenster leuchtete ein blauer Himmel. Ricarda schlüpfte in den zartrosa Morgenmantel und trat vor den kleinen Ausblick. Das Meer war von einem so tiefen Blau, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Kormorane stießen in das Wasser und tauchten mit glänzendem Gefieder wieder aus den Fluten empor. Keine Frage, sie waren in Landnähe. In wenigen Stunden würde ihre Überfahrt zu Ende sein.
Zwiespältige Gefühle überwältigten Ricarda: Da waren die unbändige Vorfreude und Neugier auf eine unbekannte Welt, aber auch die Angst, dass sie sich etwas Unmögliches vorgenommen hatte. Konnte sie hier erreichen, was ihr in Deutschland versagt bleiben sollte?
Entschlossen schob Ricarda diese Gedanken beiseite. Genug der Grübelei! Jetzt wollte sie erst einmal hinaus an die frische Luft.
Vor lauter Ungestüm wäre sie beinahe im Morgenmantel aus der Kabine gelaufen, doch glücklicherweise besann sie sich noch.
Rasch schlüpfte sie in das schwarz-weiß karierte Reisekleid und in ihre Stiefeletten.
Draußen an Deck waren ein paar Matrosen damit beschäftigt, Taue einzurollen. Graue Dampfwolken stiegen
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