Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
konnte.
Ricarda war begeistert. Sie gratulierte ihrer Wirtin zu dem zarten Hammelfleisch und dem schmackhaften Kartoffelbrei und Gemüse.
»Was führt Sie in diese Gegend?«, fragte Molly geschmeichelt. »Sind Sie auf der Suche nach einem Mann?«
»Nein, ich möchte eine Arztpraxis eröffnen.«
»Was wollen Sie, Kindchen?«, fragte die Pensionswirtin verblüfft, als hätte sie nicht richtig verstanden.
»Eine Arztpraxis eröffnen.« Ungerührt nahm Ricarda eine weitere Gabel Süßkartoffelbrei.
Molly starrte sie an, als habe sie eine der Pyramiden von Gizeh vor sich. Dann lachte sie auf. »Sie haben entweder sehr viel Humor, oder Sie sind vollkommen verrückt.«
»Warum?«, fragte Ricarda und kam sich im nächsten Augenblick unheimlich naiv vor. Hatte sie denn wirklich geglaubt, hier in ein Wunderland der Emanzipation zu kommen? Offenbar hatte es sich auch bei den hiesigen Frauen noch nicht herumgesprochen, dass man Grenzen, die einem gesetzt wurden, überwinden konnte, sofern man nur genug Starrsinn und Mut aufbrachte. »Ich bin Ärztin, ich kann Ihnen das Diplom zeigen. Ich habe in Europa studiert und denke, dass das reicht, um in Neuseeland zu praktizieren.«
»In Europa dürfen jetzt auch Frauen studieren?«, wunderte sich Molly.
Ricarda hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Ob es wirklich stimmte, dass Neuseeland das Frauenwahlrecht eingeführt hatte?
»Ja. In immer mehr Ländern. In der Schweiz beispielsweise oder in Frankreich.«
Molly legte Ricarda noch ein Stück Fleisch nach. »Ich habe als junges Mädchen in London gelebt und davon geträumt, eine Pension zu führen. Meine Mutter hatte in einem Boarding House gearbeitet und mich manchmal mitgenommen. Ich war sofort fasziniert. Leider hätte ich meinen Traum in London nie verwirklichen können. Ich hätte als Näherin oder Dienstmädchen arbeiten müssen; bestenfalls wäre aus mir die Gesellschafterin einer Pensionärswitwe geworden. Zum Glück habe ich einen Mann kennengelernt, der verrückt genug war, Auswanderungspläne zu hegen. Als er genug Geld für unsere Schiffpassage zusammenhatte - nur für das Zwischendeck natürlich -, haben wir uns auf den Weg gemacht. Ich sage Ihnen, das war eine Überfahrt!
Nach unserer Ankunft hat er hier ziemlich schnell Arbeit als Zimmermann gefunden. Wir konnten uns dieses Haus bauen und haben eine Weile glücklich darin gelebt. Doch eines Tages begann George, Blut zu husten. Er ist innerhalb eines Jahres an Lungenkrebs gestorben. Ich blieb trauernd zurück. Aber ich musste für meinen Lebensunterhalt sorgen. Und so dachte ich mir: He, Mädchen, was ist mit deinem Traum? Also habe ich das Haus zu einer Pension umbauen lassen. Und es läuft recht gut.«
Ricarda zog überrascht die Augenbrauen hoch. Molly war noch nicht alt. Ihr Mann musste sehr jung gestorben sein. »Das tut mir leid«, sagte sie und ließ die Gabel sinken.
Molly kniff die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern. »Es ist schon einige Jahre her. Es klingt jetzt vielleicht gemein, aber im Grunde genommen bin ich auch ohne ihn ganz zufrieden. Wenn's einen Himmel gibt, dann schaut George von da oben auf mich herab und sorgt dafür, dass es mir gutgeht.«
Ricarda hätte zu gern wissen wollen, ob Molly jemals daran gedacht hatte, noch einmal zu heiraten. Immerhin war sie eine hübsche Frau, und sicher würde es Männer geben, die sich von ihrer Lebenslust anstecken ließen.
Ein Aufschrei unterbrach ihre Überlegungen. Auf der Straße lag eine Frau. Sie schien von einem Pferd umgeworfen worden zu sein, denn ein Reiter preschte am Ende der Gasse davon.
Noch bevor Molly reagierte, war Ricarda auf der Treppe nach oben; in ihrem Zimmer schnappte sie sich die Arzttasche und stürmte auf die Straße hinunter. Dort hatten sich inzwischen die ersten Schaulustigen eingefunden. Allerdings machte niemand Anstalten, der Niedergetrampelten zu helfen.
»Lassen Sie mich durch, ich bin Ärztin!«, rief Ricarda, und ihre Stimme wirkte wie ein Peitschenknall.
Augenblicklich teilte die Menge sich. Alle starrten sie an, aber das beachtete Ricarda gar nicht. Sie eilte zu der jungen Frau, die bewusstlos und merkwürdig verrenkt dalag. Auf der Stirn klaffte eine blutende Wunde, die wohl von einem Pferdehuf verursacht war.
Sie drehte die Frau vorsichtig herum und hob deren Augenlider an. An den sich verengenden Pupillen erkannte sie, dass die Verletzte noch lebte. Ein dünner Blutfaden sickerte aus ihrem Mund, ein Alarmzeichen, das möglicherweise auf innere
Weitere Kostenlose Bücher