Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
Unterlippe vor. »Das glaube ich nicht. Besonders in meiner ersten Zeit hier habe ich mir so einiges anhören müssen. Dass es unschicklich sei, im Herrensattel zu reiten, zum Beispiel. Und ich wurde ständig gefragt, warum ich noch keine Kinder hätte. Der Lebensinhalt einer Frau sei es doch, Kinder zu gebären.«
»Wie haben Sie darauf reagiert?«
»Mit einem Lächeln. Das ist die beste Methode, eine unverschämte Frage zu ignorieren.«
Ricarda bezweifelte, ob das etwas bringen würde, wenn sie es genauso hielte. Immerhin hatte sie keinen einflussreichen Ehemann hinter sich, der ihr den Rücken stärkte.
Mary legte ihr die Hand auf den Arm. »Sie werden sehen, Ricarda, wenn die Leute hier erst einmal erkannt haben, welch einen Gewinn Sie für unsere Stadt bedeuten, werden sie Ihnen mit solchen Fragen nicht mehr auf die Nerven gehen. Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert, und ich bin davon überzeugt, dass es bahnbrechende Veränderungen bringen wird. Die Menschheit wird die nächste Stufe ihrer Evolution erklimmen, und der Tag wird kommen, an dem die Frauen den Männern gleichgestellt sind. Die Damen müssen nur erst einmal begreifen, dass sie einen großen Teil ihrer Unterdrückung sich selbst zuzuschreiben haben. Sie, Ricarda, haben sich von den anerzogenen Verhaltensmustern abgewendet, und deshalb werden Sie eine der Frauen sein, die von sich behaupten können, einen Stein ins Rollen gebracht zu haben. Halten Sie sich das stets vor Augen, wenn Sie auf Schwierigkeiten stoßen oder Anfeindungen erleben, meine Liebe!«
Während Ricarda noch über diese Worte nachdachte, sprang Mary auf, um einen verspäteten Gast zu begrüßen.
»Jack, was für eine Freude, dass Sie doch noch gekommen sind!« Sie flog auf ihn zu, die Arme ausgestreckt, und ergriff die Hände des Mannes, um ihn zu begrüßen.
Ricarda fühlte sich in diesem Augenblick, als würde flüssiges Feuer durch ihre Adern gepumpt. Ihr Puls raste plötzlich, und ein Zittern rann durch ihre Glieder. Mit zittrigen Knien erhob sie sich.
»Ich muss Ihnen unbedingt die Lady vorstellen, die der eigentliche Anlass für diesen Empfang ist.« Mary dirigierte Manzoni zum Fenster. »Das ist Doktor Ricarda Bensdorf, unsere neue Ärztin hier in Tauranga.«
»Vielen Dank, aber wir hatten bereits das Vergnügen«, warf Jack ein, bevor Mary mit ihrer Vorstellungszeremonie fortfahren konnte. »Ich war derjenige, der Miss Bensdorf begleitet hat, als sie das Mädchen ins Hospital brachte.«
Mehr brauchte er nicht zu sagen, damit Mary Bescheid wusste.
»Nun, wenn das so ist«, sagte sie und zwinkerte Ricarda verschwörerisch zu, »dann lasse ich Sie beide mal ein Weilchen allein und kümmere mich darum, dass das Buffet angerichtet wird.«
Jack deutete gegenüber Ricarda eine kleine Verbeugung an. »So, so, Sie sind also die neue Ärztin in Tauranga.«
»Bis jetzt noch nicht, aber bald. Ich habe ein Haus, in dem ich meine Praxis einrichten kann, und obendrein eine Genehmigung vom Bürgermeister.«
»Vom Einbürgerungsbescheid ganz zu schweigen.«
»Ja, Mrs Cantrell und ihr Mann haben mir sehr geholfen.«
»Das sieht ihnen ähnlich«, sagte Jack. Als ein Page mit einem Tablett voller Gläser vorbeikam, nahm er sich eines davon. »Mary und John sind die guten Samariter der Stadt. Würde sich einer von ihnen zur Bürgermeisterwahl stellen, würden die Leute ihn wohl nahezu einstimmig wählen.«
»Einer von ihnen? Hat es denn hier schon mal eine Bürgermeisterin gegeben?«
»Bis jetzt noch nicht, aber das kann sich ja ändern. Die Frauen dieses Landes dürfen seit letztem Jahr wählen, und Tauranga bekommt eine Ärztin. Glauben Sie mir, es wird nicht mehr lange dauern, bis eine Frau die Herrschaft über die Stadt übernimmt. Als Staatsoberhaupt haben wir ja schon eine.«
»Eine Königin ist, denke ich, die große Ausnahme unter den Frauen. Soweit ich weiß, würde ihr niemand den Platz streitig machen.«
»Höchstens machtgierige Thronanwärter und Minister, aber was das angeht, ist die gute alte Queen Victoria sehr zäh. Sie hat die Geschichte Englands bereits gelenkt, als ich noch in der Wiege lag.«
Ricarda sah ihn eindringlich an. »Sie scheinen nichts dagegen zu haben, dass Frauen immer mehr in die Geschicke der Männer eingreifen.«
»Das habe ich tatsächlich nicht. Ich stamme aus einem Haus, in dem man schon früh erkannt hat, dass eine kluge Frau der Menschheit eher nutzt als schadet. Meine Mutter war Pianistin und sehr stolz auf ihren
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