Sternenfeuer: Gefährliche Lügen
dass ihr in den nächsten zwanzig Minuten ein eigenes Gedicht schreibt. Ich lasse euch eure Ausarbeitungen vorlesen, also strengt euch an!«
Das einzige Geräusch im Raum war das Kratzen von Stiften auf Papier, aber schon bald, als die ersten Mädchen ihre Gedichte fertig geschrieben hatten, begannen sie, sich im Raum umzusehen. Waverly beobachtete die Integrationshelfer und versuchte einen Weg zu finden, wie sie Samantha unentdeckt eine Nachricht zusenden konnte. Aber der Raum war klein, und die Männer ließen sie keine Sekunde aus den Augen und beugten sich immer nur kurz über das ein oder andere Gedicht, um es zu kommentieren oder sonst wie behilflich zu wirken. Tatsächlich aber war es nicht zu übersehen, dass es ihnen vor allem darum ging, die Mädchen im Griff zu behalten. Waverly stellte sich vor, dem Mann mit der Narbe eins über den Schädel zu schlagen, mit den Mädchen wegzulaufen und ein Shuttle zu steuern. Ihre Hand schloss sich um das hölzerne Bein des Stuhls, und sie stellte sich vor, es wäre eine Keule. Sie griff so fest zu, dass sich zwischen Haut und Holz ein Schweißfilm bildete.
»In Ordnung«, sagte Amanda. »Es sieht so aus, als wären die meisten fertig. Würde irgendjemand von euch vorlesen, was sie geschrieben hat?«
Eine Hand schoss nach oben und wedelte in der Luft. Es war Samantha. Waverly setzte sich kerzengerade hin.
Samantha stand auf und beugte sich über ihr Gedicht, den Kopf geneigt, der dichte, braune Pony hing ihr ins Gesicht. Ihr Blick wanderte zu Waverly; sie hob die Augenbrauen und sagte: »Schreibt nicht alle auf, was ich sage.« Ihre Stimme schien sich zu fangen. »Ich habe hart daran gearbeitet. Jedes zweite Wort war eine Qual.«
Amanda lachte. »Du hörst dich an wie ein echter Dichter.«
Samantha starrte Waverly an und ließ dann den Blick zu dem Stift auf Waverlys Schreibpult sinken.
Was hatte sie gesagt? Schreibt nichts auf? Wollte sie, dass Waverly aufschrieb, was sie vorlas?
Sie nahm ihren Stift. Samantha nickte kaum merklich. Der Integrationshelfer mit der Narbe stand hinter Samantha und betrachtete sie misstrauisch.
Waverly beugte sich über ihr Schreibpult, als sie Samanthas Worte niederschrieb. Samantha legte zwischen jeder Zeile ihres Gedichts eine Pause ein und hob ihren Blick, um sicherzugehen, dass Waverly mitkam.
Süßes Messer mein
Besorgt suche ich und find nicht mehr
Das Blut
Es wird nimmer fließen.
Oh, wir alle müssen immer
sie freudig überraschen, Kind!
Im lautren Gottesdienst – erstrahle!
Felicity – einst hat Gott Nachricht uns überbracht.
Und wo wir sind, ist sie?
Erwarte nichts!
Antwort bringt bald der Morgen?
Samantha ging zurück zu ihrem Stuhl, den Kopf über das Schreibpult geneigt.
»Nun«, sagte Amanda, die offenbar unsicher war, was sie sagen sollte. »Das war ein sehr intensives Gedicht, Samantha! Es erinnert mich an die Dichter des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Möchte noch jemand vorlesen?«
Niemand sonst meldete sich freiwillig, also rief Amanda Melissa Dickinson auf, die aufstand und monoton etwas über Sterne und Zeit vorlas.
Waverly beobachtete die Integrationshelfer, die wieder angefangen hatten umherzugehen. Der Mann mit der Narbe kam auf sie zu. Sie wollte ihren Schreibblock abdecken, auf den sie Samanthas Gedicht geschrieben hatte, aber das würde auffallen, und man würde sie durchschauen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie spürte, wie der Mann hinter ihr entlangschlich. Hatte er angehalten, um über ihre Schulter auf den Schreibblock zu schauen? Sie wusste es nicht. Schließlich entfernte er sich wieder. Waverly bemerkte, dass sie die Luft angehalten hatte, und ihre Lungen schrien nach Sauerstoff, aber sie zwang sich, ruhig zu atmen, bis sie sich sicher war, dass der Mann vorübergehend das Interesse an ihr verloren hatte. Als der Integrationshelfer auf seinem Rundgang in den vorderen Teil des Raums kam, ruhte sein Blick auf Samantha, die sich über ihren Schreibblock beugte. Sie radierte Worte aus, schrieb neu, strich einige durch. Einen Moment lang schien es so, als würde er ihr den Block wegnehmen wollen, aber als er bemerkte, dass Amanda ihn aufmerksam beobachtete, trat er den Rückzug an und postierte sich in einer Ecke des Raums, wo er vorgab, einem der jüngeren Mädchen bei einem Reimwort zu helfen.
Am Ende des Tages führten die Integrationshelfer die Mädchen den gleichen Weg durch die Gänge zurück, den sie gekommen waren, so dass Amanda und Waverly zuerst
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