Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Gesicht dagestanden, Kopf und. Nackenmuskeln starr und verkrampft. Hatte sich nicht einmal gestreckt, als die Zeremonien ein Ende gefunden und die Menschen sich nach vorne gedrängt und Worte geschrien hatten, die ihr unverständlich gewesen waren.
Es gab so vieles, was sie nicht verstand, daß fremdartige Worte sie längst nicht mehr beunruhigten.
Sie verstand die Veränderungen nicht, die sich mit ihr vollzogen hatten. Verstand die Dinge nicht, die sie getan hatte; im Wald, in der Wüste, heute. Verstand nicht, wie sie hierher gekommen sein konnte, um ihren Vater zu suchen und statt dessen das Feuerarmband einer Barohna gefunden hatte.
Das war ihr am schmerzlichsten gewesen, daß ihr Vater ihr vor Hunderten von Menschen das Armband ums Handgelenk gelegt hatte, ohne ihr zu sagen, was es war oder was er vorhatte. Während sie durch die Gassen der Siedlung zurückritten, klammerte sie sich blind an das Unrecht und versuchte, einen Wall aus Wut aufzubauen, um die Angst und die Verwirrung abzublocken, die sie zu verschlingen drohten.
Doch ihre Wut war so schwach wie sie. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte nur noch das Verlangen, sich zu verstecken; vor den Menschen, die sich um sie drängten; vor den Ansprüchen, die sie an sie stellten; vor ihren eigenen Gedanken. Als sie beim
han-tau
ihres Vaters angekommen waren und er Ranslega anhalten ließ, glitt sie rasch vom Rücken der Weißmähne, bevor ihr jemand helfen konnte.
»Ich möchte allein sein. Ich möchte mit niemandem reden«, sagte sie mit halberstickter Stimme und lief ins Scheibenhaus. Da sie nicht wußte, wohin sie sich wenden sollte, lief sie in den Baderaum, warf sich über den Wannenrand und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Später, als sie nicht mehr weinen konnte, nahm sie einen Krug Wasser und trank, dann bespritzte sie sich das Gesicht und wusch sich Hände und Arme. Zitternd betrachtete sie den braunen Ring, der sich dort gebildet hatte, wo das Feuerarmband auf ihrer Haut geruht hatte. Es gab keine Blasen, keine Wunde, sie fühlte keinen Schmerz. Das Hautgewebe hatte sich nicht verändert. Die Haut war einfach nur dunkler geworden. Sie rieb darüber, und schließlich spürte sie, wie ihr Tränen übers Gesicht liefen. Würde sie jemals wieder die Person werden, die sie gewesen war? Oder mußte sie jetzt ständig mit dem Gefühl leben, daß sie eine Fremde geworden war? Das Band dunklen Fleisches erschien ihr wie ein Stigma, eines, daß sie ins Abseits stellte – auch von sich selbst.
Eine Weile später brach die Dämmerung herein. Keva hörte aus dem
han-tau
gedämpfte Stimmen. Einmal wurde die Schiebetür beiseite geschoben, und Resha spähte herein. Als Keva nichts sagte, schob das Mädchen die Tür wieder zu und schlüpfte fort.
Noch später vermeinte Keva, Essen zu riechen. Ihr Magen zog sich hungrig zusammen, doch bevor sie sich aufraffen konnte, ihre Zurückgezogenheit aufzugeben, wurde das Türpaneel erneut zur Seite geschoben. Ein beschattetes Gesicht schaute herein.
»Du, komm. Komm zum Tisch der Frauen.« Die Worte kamen stockend, mit Nachdruck.
Keva stand unsicher auf und versuchte sich an die Namen der Frauen ihres Vaters zu erinnern. Maiya, Ramari… Ihr fiel der Name der dritten nicht ein, derjenigen, die ihr noch nicht begegnet war. Sie zögerte. Wut, Angst, Verwirrung alles noch frisch und schmerzhaft. Doch sie hatte auch Hunger und konnte sich nicht ewig im Baderaum verstecken. »Ja«, willigte sie ein.
Das Gesicht zog sich zurück, und Keva trat aus dem Baderaum.
Sie erwartete, in die vorderen Räume des
han-tau
geführt zu werden, in das Zimmer, wo die Frauen ihres Vaters aßen. Statt dessen folgte sie der verhüllten Frau einen kurzen Flur hinab und durch die Hintertür. Als sie hindurchging, wandte sich die Frau um und blickte unsicher zurück. »Du komm«, wiederholte sie. »Frauen Tisch.«
Keva erkannte, als sie die Frau zum erstenmal deutlich sehen konnte, daß sie fast noch ein Mädchen war. Kaum älter als sie. Sie hatte ein molliges Gesicht mit runden, furchtsamen Augen. Und sie war schwanger. Keva runzelte unsicher die Stirn. »Wo ist der Tisch der Frauen?« Doch bestimmt nicht hier draußen.
»Du komm.«
Keva schaute zögernd zurück. Warum wollte die Frau ihres Vaters sie von seinem
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wegführen? Und warum benahm sie sich so verstohlen und blickte immer wieder furchtsam über die Schultern hinter sich? Keva sah bald ein, daß es keinen Sinn hatte, sie danach zu fragen. Das Mädchen schien nur
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