Sternenwind - Roman
zitterte. »Ich mache es nicht.«
»Was?«, fragte sie.
»Ich gehe nicht noch einmal in die Datenströme. Ich kann nicht.«
Ich verkniff mir eine spontane Erwiderung. Er musste es tun. Im Alter von sechs Jahren hatte er seine Begabung entdeckt. Ich konnte mich noch gut daran erinnern – es war das erste Mal, als mir richtig bewusst wurde, dass wir sehr mächtig waren, in mancher Hinsicht sogar mächtiger als die Erwachsenen in unserer Umgebung.
Auf dem Spielplatz im Park hatte ich ihn beobachtet.
Seine Aufmerksamkeit war abgelenkt. Also bemerkte er den Ball nicht, den ich ihm zuwarf. Dann erstarrte er und riss die Augen auf, so dass er gleichzeitig verwirrt, aufgeregt und verängstigt wirkte. »Etwas versucht reinzukommen.«
» Was ist los?«, wollte ich von ihm wissen.
»Dämonen.« Er verdrehte die Augen und setzte sich – wurde völlig ruhig, was mir Sorgen machte. Es war, als wäre er in diesem Moment gestorben. Er war so weit weg, dass ich überhaupt keine Rolle mehr spielte. Eine ganze Minute später ertönte das schrille Signal des Grenzalarms – das Zeichen, dass Tiere eingedrungen waren. Es war ein Rudel Dämonenhunde, schnelle vierbeinige Raubtiere mit scharfen Zähnen. Gi Lin und Steven vertrieben das Rudel, aber von diesem Tag an war es Josephs Lieblingsspiel, in die Weiten der drahtlosen Netzwerke zu horchen, von denen wir umgeben waren. Ich war taub für diese Signale, aber Kayleen lernte schnell, ihm bei diesem Datenspiel Gesellschaft zu leisten.
Wie sollte ich mit Josephs Ängsten umgehen? Er verweigerte sich Befehlen. Also würde ich die Datenströme später noch einmal ansprechen. »Wie gefällt dir die Idee, dass wir alle zusammenleben?«
»Wer muss es genehmigen?«, fragte Bryan mich.
»Wahrscheinlich Nava. Ich vermute, wir könnten einen Antrag beim Stadtrat stellen. Man wird uns keine besondere Aufmerksamkeit widmen, bis das Chaos aufgeräumt ist. Deshalb werde ich auf eine günstige Gelegenheit warten.«
Kayleen hielt Joseph noch einmal den Apfel hin.
Er brummte nur und erhob sich vom Stuhl. Seine Knie gaben nach, und er knickte ein, fiel auf den Boden, mit schlaffen Armen und Beinen, den Kopf auf der Seite. Er stöhnte leise.
Ich fühlte mich genauso schwach wie Joseph und hatte wieder große Angst, genauso wie im Park.
Bryan hob ihn auf und trug ihn zu seinem Bett. Ich folgte den beiden. Ich bekam kaum Luft. Joseph wirkte so klein und verletzlich in Bryans Armen. War etwas Wichtiges in ihm zerbrochen? Würden wir es je erfahren?
Kayleen kam mit den Äpfeln und einem Glas Wasser hinterher und stellte alles auf Josephs Nachttisch ab. Als Bryan ihn zudeckte, sah Joseph ihn mit Dankbarkeit in den Augen an. Noch gestern früh – oder an irgendeinem anderen Tag – hätte Joseph es nicht ausstehen können, getragen zu werden.
Bryan blickte lächelnd auf ihn runter. »Also gut, kleiner Bruder. Schlaf. Wir versuchen zu entscheiden, was wir tun wollen.«
Joseph nickte und drehte sich auf die Seite. Er wandte uns den Rücken zu, damit er auf die leere Wand neben seinem Bett starren konnte.
Wir kehrten zu unserem unterbrochenen Frühstück zurück.
»Warum kann er nicht stehen?«, stellte Bryan die Frage, die auch mir auf der Zunge lag.
Kayleen trank ihre Milch aus und stellte das Glas ab. »Manchmal fühle ich mich völlig erschöpft, wenn ich mit zu vielen Daten hantiere, als würde es mein Nervensystem verschleißen. Joseph war sehr tief eingetaucht, nicht wahr? Und wurde dann plötzlich herausgerissen? Es könnte ein oder zwei Tage dauern, bis sein Körper wieder tut, was er von ihm erwartet.«
Erneut klopfte es an der Tür.
Ich verließ die Küche, gefolgt von Kayleen und Bryan.
Nava stand draußen. Auch sie hatte nasses Haar, da sie offenbar geduscht hatte, und sie trug einen sauberen Overall und ein leichtes Hemd. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Gut«, sagte sie, »ihr seid alle da.« Sie hielt inne und straffte sich. »Ich weiß, dass ihr trauert, aber so geht es uns allen. Wir haben zwei Gewächshäuser verloren, das Dach eines Lagerhauses wurde zerstört, und nur die Hälfte der Häuser, die wir überprüft haben, ist noch bewohnbar.« Nava verstummte für einen Moment und sah uns an, als wollte sie unsere Reaktionen abwarten. »Gianna ist überzeugt, dass ein Sturm kommt. Ich brauche euch heute Vormittag. Ich brauche jeden von euch.« Sie senkte den Blick und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Nava vermittelte mir das dringende Bedürfnis, etwas
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