Sternenwind - Roman
wollte er mich fortschicken. Aber Paloma und Kayleen standen an meiner Seite. Er seufzte, schluckte schwer und machte mit seiner Arbeit weiter. Es schien ewig zu dauern.
Das Packgebra drehte den bärtigen Kopf herum und beobachtete Tom aufmerksam. Die weit auseinanderstehenden dunklen Augen blickten neugierig. Kälte breitete sich in meinem Bauch aus. Am Boden öffnete sich der Leichensack. Darin lag Gi Lin. Eine Hälfte seines Gesichts war zerquetscht, die andere unverletzt. Kayleen und Paloma und ich zerdrückten uns fast gegenseitig die Hände, so bestürzt und fassungslos waren wir.
Das andere Gebra trug eine ähnliche Last. Als Tom die Stricke löste, rutschte eine Hand heraus. Stevens Hand. Daran fehlte der linke kleine Finger, ein Missgeschick, das ihm in den letzten Tagen des Krieges widerfahren war.
Es ist eine Sache, etwas zu wissen, aber es ist etwas ganz anderes, wenn einem das Wissen mit der brutalen Wucht der Realität eingehämmert wird. Auf dem steinigen Grasboden fiel ich auf die Knie, genauso wie Kayleen und Paloma. Jemand weinte. Als ich wieder zu Atem gekommen war, zwang ich mich aufzustehen. Hinter mir fragte Paloma: »Irgendwelche Neuigkeiten von den anderen?«
Ken, einer der Männer, die nach den Opfern gesucht hatten, antwortete ihr. Seine Worte kamen stockend und abgehackt, als würde es auch ihm schwerfallen, die Wahrheit anzuerkennen. »Die Felsen haben fast die gesamte Straße verschüttet. Schwer durchzukommen. Aber wenn jemand auf der höher gelegenen Seite war, hätte er zu uns gelangen können. Wir haben ein totes Gebra an der Böschung gesehen, aber auch dort sind überall Felsen. Die Lawine ist bis zur anderen Straßenseite gerollt.« Er schluckte. »Wir haben auch Thereses Leiche gesehen, aber sie liegt unter einem Stein, der zu groß ist, um ihn zu bewegen. Wir müssen später noch einmal zurückkehren.«
Ich wankte und fiel in Palomas Arme, als mir der zweite Schlag versetzt wurde, obwohl ich bereits damit gerechnet hatte.
Tom kam zu mir und legte mir einen Arm um die Schulter. »Geh zurück, Chelo. Kümmere dich um Joseph. Du kannst nicht die ganze Nacht im Park bleiben. Die Überprüfung hat ergeben, dass euer Haus das Beben überstanden hat. Geh dorthin. Wir werden morgen nach dir sehen.« Er blickte zu Paloma und Kayleen. »Könntet ihr sie und Joseph nach Hause bringen?« Sein Blick verriet, dass es eher eine Forderung als eine Frage war. »Danach treffen wir uns im Amphitheater. Ich werde in einer Stunde wieder da sein.«
Wir gingen zurück, hielten uns dabei an den Händen und stolperten durch die Dunkelheit. Nur der schwache Schein des Mondes Ackermann verstärkte das Sternenlicht. Die Abendbeleuchtung der Stadt war nicht angegangen. Wir wankten durch die Finsternis und fanden Joseph und Bryan genau dort wieder, wo ich sie zurückgelassen hatte. Bryan trug Joseph, und zu fünft schlurften wir vorsichtig nach Hause, während unter unseren Füßen Glasscherben und zersplitterte Dachziegel knirschten.
Kayleen und Paloma halfen mir, Joseph ins Bett zu bringen. Bryan machte mir eine Tasse Tee mit Minze und Rotbeere. Nachdem sie gegangen waren, versuchte ich den Tee zu trinken, aber er schmeckte bitter. Rastlos streifte ich herum, hob Geschirr und Bilder auf, die heruntergefallen waren, fegte die Scherben einer zerbrochenen Topfpflanze auf und warf sie in den Müll.
Steven und Therese hätten jede Minute nach Hause kommen müssen. Ich wusste es besser, aber dennoch hielt ich immer wieder nach ihnen Ausschau.
Ich brachte mein Bettzeug in Josephs Zimmer und legte mich dort auf den Fußboden. Falsche Grillen zirpten draußen vor dem Fenster, und gelegentlich rief ein Nachtvogel hinter dem Haus am Rand des Unteren Samtwaldes.
Die Nacht verging unendlich langsam. Was wäre, wenn es Joseph nicht bald besser ging? Was würde dann mit uns geschehen? Wer würde uns aufnehmen?
Kapitel 2
TRAUER
Ich wachte auf und musste blinzeln, wegen des Lichts, das durch das Fenster hereinfiel. Wo war Therese? Normalerweise wurden wir von ihr geweckt. Dann erinnerte ich mich und wollte wieder einschlafen, bis Therese mich weckte. Aber sie würde es nicht tun, nie wieder. Mein Rücken war steif, nachdem ich die ganze Nacht zusammengerollt auf dem Fußboden in Josephs Zimmer gelegen hatte. Er rührte sich in seinem Bett, als wäre er gleichzeitig mit mir erwacht. »Bist du wach?«, flüsterte ich.
»Ja.«
Ich setzte mich auf und starrte ihn an. Er lag auf
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