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Sternenwind - Roman

Sternenwind - Roman

Titel: Sternenwind - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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aufstand und Alicias Hand nahm, um sie auf die Bühne zu führen.
    Alicia warf uns einen Blick über die Schulter zu, und ich sah, dass Angst und Entschlossenheit in ihren violetten Augen brannten. Dann wandte sie sich um und stieg die Stufen hinauf.
    »Alicia hat eine Beschwerde gegen Ruth eingereicht«, sagte Nava. »Ruth sitzt als angesehenes Mitglied des Stadtrats und als Anführerin der Ostsippe bei uns. Sie wird sich zur Angelegenheit äußern, aber sie hat kein Stimmrecht.«
    Das war immerhin etwas. Ich rutschte unbehaglich auf meinem Sitzplatz herum.
    Alicia hatte die Bühne erreicht und drehte sich um. Die dunkelroten und schwarzen Flecken in ihrem Gesicht setzten sich deutlich von ihrer weißen Haut ab. Ein Raunen ging durch die Menge. Alicia nahm auf dem freien Stuhl neben Akashi am Ende des Tisches Platz. Sie betrachtete die Ratsmitglieder mit ausdrucksloser Miene. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es sich anfühlen musste, da oben zu sitzen, wo jeder sie sehen konnte. Sie war ruhig und bewegte sich nur, um Nava den Blick zuzuwenden.
    Ruth beugte sich vor, um das Wort zu ergreifen, aber Nava hielt eine Hand hoch. »Wir wollen uns zuerst anhören, was das Mädchen zu sagen hat. Bitte, Alicia, trag jetzt deine Beschwerde vor.«
    Die Menschen verstummten schlagartig, und alle schienen gebannt auf Alicia zu lauschen.
    Alicia sprach langsam, und ihre Stimme war gut hörbar. »Wie ihr am Geschichtenabend gehört habt, gab es einen Todesfall in der Ostsippe, einen jungen Mann namens Varay. Er war mein Freund, einer meiner wenigen Freunde in der Sippe.« Sie befeuchtete ihre Lippen und warf Ruth einen kurzen Blick zu.
    Ruth beobachtete uns, nicht Alicia. Die unverhohlene Feindseligkeit in ihrem Blick erweckte in mir den Wunsch, sie nicht anzuschauen. Aber ich erwiderte ihren Blick, bevor ich mich wieder auf Alicia konzentrierte.
    »Varay stürzte in den Tod, und ich war bei ihm. Es war … der schrecklichste Moment in meinem ganzen Leben – zu sehen, wie er stürzte, zu wissen, dass ich über ihm war und nichts dagegen tun konnte.« Ihre Stimme zitterte, und es schien, als würden sich alle Anwesenden vorbeugen, um ihr zuzuhören. »Zu sehen, dass er gestorben war, seine Leiche zur Sippe zu tragen und mir bei jedem Schritt zu wünschen, er wäre noch am Leben.«
    Sie atmete einmal tief durch. »Ein paar Tage später hörte ich beunruhigende Dinge von meinen wenigen Freunden in der Sippe. Sie sagten mir, Ruth würde den Leuten erzählen, ich hätte Varay getötet. Zuerst dachte ich, dass es einfach nur ein dummes Gerücht war, doch als ich es immer wieder hörte, fühlte es sich immer mehr wie eine Wahrheit an.« Ihre Hände umklammerten die Tischkante, ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. »Die Leute behandelten mich noch schlechter als vorher. Bis dahin war mein tägliches Leben erträglich gewesen, doch nun wurde es zu etwas, das …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »… das nur noch anstrengend und schmerzhaft war. Ich wurde angeklagt, aber niemals direkt. Ich weiß nicht, wie ich meine Unschuld beweisen soll, weil Varay und ich allein waren …« Eine Träne lief ihre Wange hinunter, und sie hielt für einen Moment inne, offensichtlich bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Nur er und ich wissen, dass sein Tod ein Unfall war, und er kann nicht mehr darüber sprechen. Da ich meinen Namen nicht mehr reinwaschen kann, bitte ich darum, die Ostsippe verlassen zu dürfen.«
    Liams Hand legte sich in meine. Sie fühlte sich warm, tröstend und stark an.
    »Woher hast du die blauen Flecke?«, wollte Nava wissen.
    »Einige stammen von Bella und Michael, als sie mich in den Wagen gesperrt haben.« Sie legte die Hände ans Gesicht. »Andere habe ich mir selbst zugefügt, als ich versucht habe, mich zu befreien.« Sie legte die Hände wieder auf die Knie.
    Erneut ging ein Raunen durch die Menge. In der Stadt gab es ein Gefängnis, aber es war nicht mehr benutzt worden, seit ich zehn Jahre alt gewesen war. Wir sperrten keine Leute ein.
    »Gibt es noch mehr, das du uns zu sagen hast?«, fragte Nava.
    Alicia hatte den Blick gesenkt. »Im Moment nicht.«
    Ruth stand auf. Ihre Haltung forderte Aufmerksamkeit ein.
    Nava nickte ihr zu.
    »Als Erstes sollten wir klarstellen, welchen Status Alicia besitzt. Sie wurde als Kriegsgefangene meiner Obhut anvertraut, nicht als Familienmitglied oder Angehörige der Sippe. Als solche haben wir sie außergewöhnlich gut behandelt. Ein Kriegsgefangener hat kein

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