Sternenzitadelle
utgenische Hauptstadt hässlich, finster und deprimierend war, boten Venicias Gebäude und Gärten den strahlenden Anblick perfekter Harmonie. Er hatte den Eindruck, jedes Haus, jeder Platz, jede Brücke, jeder Park sei Teil eines Gesamtkunstwerks. Die einzige Gemeinsamkeit beider Städte bestand in den hohen Wachtürmen der Gedanken, deren Architektur das Bild sowohl der einen als auch der anderen Stadt störte.
Sharis und Jeks Reise durch den Äther hatte am Ufer eines breiten, träge fließenden Flusses ihr Ende gefunden, auf dem farbenprächtige Schiffe dahinglitten. Obwohl die Promenade ziemlich belebt war, hatte ihnen niemand Aufmerksamkeit geschenkt, als wäre das plötzliche Erscheinen dieses Mannes und dieses Jungen etwas völlig Normales.
Jeks erster Gedanke hatte Yelle gegolten. Sie schlief in einem dieser Gebäude in dieser Stadt, und sie plötzlich nach dreijähriger Trennung in seiner Nähe zu wissen, erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Freude.
Shari und Jek hatten sich eine Weile ausgeruht und
geistesabwesend die Müßiggänger betrachtet. Die beiden trugen Colancors und Jacken, die sie auf dem zwischen Terra Mater und Syracusa gelegenen Planeten Marquisat gekauft hatten. Shari hatte sich seinen Bart abrasieren lassen, denn die Kirche des Kreuzes sowie die Syracuser untersagten jegliche öffentliche Zurschaustellung menschlichen Haars, außer zwei kunstvoll geflochtenen Zöpfen, die als Schmuck außerhalb der den ganzen Kopf umschließenden Haube getragen werden durften.
Jek fühlte sich in dem straff am Körper anliegenden Colancor eingeengt, und er beneidete die Venicianer um ihren Hochmut und die Gelassenheit, mit denen sie sich in ihrer Kleidung bewegten. Und ihre prächtigen Mäntel, Capes oder Überwürfe ließen das Grau seines Gewands noch trister erscheinen. Einigen Passanten folgten in gewisser Distanz ein, zwei oder drei Gedankenschützer.
»Die Vorhut des Bloufs«, murmelte Shari. »Die Menschheit hat ihm die Schlüssel zu ihrer Seele übereignet …«
Shari besaß noch ein paar Standardeinheiten, und sie aßen in einem der zahlreichen Restaurants an der Uferpromenade. Dann nahmen sie eine Taxikugel – ein rundes, transparentes Fluggerät – und ließen sich ins historische Zentrum der Stadt, Romantigua, bringen.
Jek sah entzückt, wie die Zweite Nacht hereinbrach und den Himmel in rosa und hellviolette Farbtöne tauchte. Schwebende Lichtkugeln fingen überall zu leuchten an und glitten wie Sterne über die Avenuen. Zwar warf ihnen der Chauffeur verstohlene Blicke zu, da aber Shari ein so mürrisches Gesicht machte, redete er nicht mit ihnen. Er setzte sie auf einem kreisrunden Platz ab, in dessen Mitte ein Brunnen aus goldfarbenem Optalium stand.
Die beiden blieben eine Weile vor den Wasserspeiern –
Tierskulpturen – stehen, aus deren Mündern sich Fontänen in das Rund ergossen.
»Figuren aus dem Bestiarium der Kirche des Kreuzes«, erklärte Shari leise. »Die legendären Hüter reiner Welten: Drachen, Teufel, Riesenspinnen, Oger, Schlangen … Monster in Symbolgestalt, die den Menschen den Zugang zur Quelle verwehren …«
Um den Brunnen herum unterhielten Straßenkünstler, Sänger und Tänzer das Volk mit ihren Darbietungen. Jek wäre gern geblieben, um das Schauspiel zu bewundern – vor allem die Tänzerinnen mit ihren fließenden eleganten Bewegungen hatten es ihm angetan –, aber Shari packte ihn am Arm und zog ihn fort. Durch enge, gewundene Gassen gelangten sie vor ein riesiges, von sieben Türmen umgebenes Gebäude.
Der Anjorianer erkannte es als den Bischöflichen Palast, den er oft während seiner mentalen Reisen besucht hatte. Trotz seiner Größe wirkte er plump neben den angrenzenden Häusern, die durch eine elegante Leichtigkeit bestachen.
Die beiden reihten sich in den Strom der Passanten vor dem Haupteingang ein. Es herrschte großes Gedränge, denn die zu einer Audienz zugelassenen Bürger wurden von den Leibgardisten am Betreten des ersten Innenhofs gehindert, obwohl sie ihre mit Siegeln versehenen Einladungen schwenkten.
Jeks Herz schlug schneller. Nur ein paar Mauern trennten ihn noch von Yelle. Er sah Shari erwartungsvoll an, doch sein Gefährte reagierte nicht. Da fragte sich Jek, ob der Mahdi wegen der Aufgabe, die ihnen bevorstand, so verschlossen sei, und war selbst sehr angespannt und nervös.
Er konnte nicht wissen, dass sein Gefährte seit ihrer Rematerialisation auf Syracusa von einer dunklen Vorahnung heimgesucht worden war.
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